PHILOSOPHIE = VIELOSOPHIE ?
versäume nie zu denken,
was gedacht werden muss
versäume nie zu sagen,
was gesagt werden muss
versäume nie zu tun,
was getan werden muss
rue - oktober 2017
AMPELN, TEMPOLIMIT, MASKENPFLICHT
April 2020
Die Sache mit den Regeln ist nicht leicht. Im Moment sowieso nicht. Ich habe in den letzten Tagen immer wieder darüber nachgedacht, warum wir eine derartige Mühe haben, uns mit der Maskenpflicht zu arrangieren, sie notwendig zu finden und vor allem: uns daran zu halten.
Nach der Schockstarre kommt jetzt also das Gemaule, das Unverständnis, das Nachdenken und das „ich mache, was ich will und für richtig halte“. Und zwar sowohl in der großen, weiten Politik, als auch beim kleinen Hans-Otto nebenan. Wer Medien und Menschen genau beobachtet, muss sich die Frage stellen, ob in den Medien berichtet wird, was Menschen tun, oder ob sich menschliches Handeln nicht eher an der aktuellen Medienberichterstattung orientiert.
Zu kompliziert ? Gut, ich sage es einfacher: Vor sechs Wochen saßen wir angespannt, ehrfürchtig, verängstigt vor einem Virus, von dem wir nicht wussten, was es uns antut. In der Presse, in den Nachrichten, überall die gleiche Botschaft: Vorsicht, Corona könnte uns. Nun, Wochen später, merken viele von uns „Hey, ich lebe noch!“ – Corona kann mir nichts. Also könnte ich doch eigentlich. Dieses Umdenken ist einerseits nachvollziehbar, umgekehrt trügerisch und gefährlich. Man könnte auch sagen: Wir werden leichtsinnig. Wo sich Politiker, Virologen, Nachrichtensender und Influenzer der anderern Art vor Wochen noch einig waren, ist der Konsens nun verloren gegangen. Jeder weiß was. Jeder weiß es. Und jeder weiß es besser, als es der andere weiß. Glaubt er. Da wird gedacht, gefühlt, behauptet, postuliert. Aber nichts begründet, nachgewiesen, auch nicht mehr abgewogen. Und am Ende eben zu wenig gewusst.
Die trügerische Sicherheit, in der wir uns wiegen, zeigt sich erneut am Klopapier. Es ist zurück, zurück in den Regalen. Das Mehl ist wieder da, Nudelpackungen wieder vorrätig und plötzlich, mit Maske, tobt der Bär im Supermarkt meines Vertrauens. Abstand ? Weder am Regal. Noch an der Kasse. Die Aufsicht ist weg, der Desinfektionsmann ebenso. Die Normalität ist zurück. Scheinbar. Im Umschalten sind wir schnell. Ja, wir haben ja auch gekämpft. Sechs Wochen Entbehrung sind genug. Genug für den deutschen Michel, der das Sauerkraut und die Freiheit, seine Freiheit, über alles liebt.
Populismus ist hausgemacht. Und wir bewegen uns seit einigen Tagen auf einer ganz anderen Welle des Populismus. Unzufrieden mit all den Einschränkungen nehmen wir jeden medialen Strohhalm, den wir bekommen können, und brüllen gegen Maskenpflicht. Time for a revolution ! Wir lassen uns das nicht mehr bieten. Die Politiker, die können uns. Wir sind wieder bestens im Bilde. Ja, die Wahrheit steht geschrieben. Nein, was geschrieben steht, ist wahr.
Nein, auch ich bin kein Maskenfetischist. Auch ich frage mich, ob und wozu. Aber ich trage es mit. Ich trage es mit, dieses Übel, das mir den klaren Blick stiehlt, die Luft abschneidet und mich dazu noch äußerst komisch aussehen lässt. Wir kommen uns wieder näher, wir wagen mehr. Aber vielleicht wagen wir zu viel.
Wir leben in einer Zeit des anderen Egoismus. Ich würde uns nicht, dir nicht, mir nicht vorwerfen, nicht rücksichtsvoll zu sein. Wir sind es alle. Jeder für sich. Aus seiner Perspektive. Und wer eine Maske nicht für gut befindet und sie folglich nicht trägt, der wird nicht verstehen, warum er egoistisch handelt - weil er es nicht verstehen kann.
Menschen sind soziale Wesen. Soziale Gemeinschaften brauchen Regeln. Nur durch sie sind wir frei und können unsere Freiheit auch entsprechend wahren.
Ich würde dies gerne an einem einfachen Beispiel untermauern und menschliches Handeln daran ergründen: Die Ampel ist rot. Der Autofahrer bleibt stehen. Die Ampel ist grün, er fährt. Warum handelt er so ? Erstens weiß er um die Gefahr eines Unfalls, die ein Fahren bei Rot birgt, zweitens hat er Respekt vor einer Geldstrafe oder Belohnungspunkten in Flensburg. Der Fußgänger indes verschafft sich hier schon erste Freiräume: Bei Rot stehen, bei Grün gehen – das wissen wir. Aber wenn die Straße frei ist, dann gehen wir – bei Grün. Und bei Rot. Hier erkennen wir klar, ob wir in einer Gefahrensituation stecken oder nicht. Im Moment des Handelns. Und so wird Handeln zwar nicht legitimiert, aber einleuchtend, zwingend. Ein Tempolimit mit 50 km/h halten wir dann ein, wenn wir wissen, dass die Kreuzung gefährlich ist oder um die Ecke ein Blitzer steht. Wir erkennen das gleiche Motiv, die gleiche Motivation für unser Handeln. Die Gefahr ist er-kenn-bar, wir er-kennen sie, haben eigene Erfahrungen damit gemacht und schaffen es – mehr oder weniger – uns an Regeln und Vorgaben zu halten. Um uns selbst zu schützen. Um unser Portemonnaie zu schützen. Vielleicht auch ein wenig, um andere zu schützen.
Ein Virus ist nicht sichtbar, nicht greifbar. Da wird erzählt, berichtet, gewusst – oder eben nicht. Was uns in dieser neuen Situation fehlt, sind konkrete Erfahrungen, die unser Handeln leiten. Oder einfacher: Wo Maskenlosigkeit kein Geld kostet und du nicht gleich stirbst, wird es schon nicht so schlimm sein. An beiden Stellen geht es um Regeln und den Umgang mit ihnen. Die Regeln sind gleich: durch Gesetze und Verordnungen ist „geregelt“, was es zu regeln gibt. Mit dem stets gleichen Ziel: dem Schutz des menschlichen Lebens als höchstes Gut. Der Umgang damit indes scheint willkürlich. Klar, bei rot wird gebremst, vor dem Blitzer wird gewarnt – immer, überall, von jedem. Aber bei der Frage „Maske - ja oder nein?“ brechen wir aus. Unvernuft – Willkür – Anarchie ?!
So wie es manchen schwer fällt, die Maskenpflicht zu akzeptieren, fällt es mir schwer, mich mit diesen zwei völlig verschiedenen Handlungsmustern zu arrangieren. Nein, ich bin nicht blind. Ich bin auch kein Ja-Sager. Aber ich wüsste nicht, welchen Nachteil ich durch das Tragen einer Maske im Supermarkt hätte. Das sollte reichen. Wenn der Vorteil umgekehrt nun darin besteht, Menschenleben zu retten – ja, ich formuliere es bewusst derart deutlich – dann mache ich mich gern über Fasching hinaus zum gepunkteten Affen - und mache mit.
aus:
RUE - Der veränderte Umgang mit Freiheit
April 2020
KLOPAPIERTOURISMUS
April 2020
Ihr Lieben. Meistens, wenn ich so anfange, meine ich es ernst. Ihr Lieben, ich fahre dann mal los, Klopapier kaufen. – Papa, das kannst du vergessen. Du wirst auch heute nirgends Klopapier finden. In solch einem immens wichtigen Moment möchte man nicht auf seine Kinder hören. Mann erst recht nicht. Denn dieses Mal müssen sie irren, nicht immer kann es sein, dass es so ist, wie es ist und wie sie es sowieso schon längst vorhergeahnt haben.
Es ist nun etwa sechs Wochen her. Das letzte Mal. Wie immer habe ich zwei Packs mit acht Rollen gekauft und sie in unserem kleinen Badschrank einsortiert. Für den Notfall haben wir außerdem immer noch einen Packen im Keller. Man kann ja nie wissen. Oder wenn mal Besuch kommt.
Es hat mich schon ein wenig amüsiert, aber vor allem irritiert, als es vor vier Wochen hieß, das Klopapier sei knapp, weil die ganzen Hamster es gekauft hätten, und man bekäme deshalb nur noch eine Packung, wenn überhaupt. Hamster ? Wozu brauchen die Klopapier ? Machen Sie sich keine Sorgen. Sagte Mutti. Machen Sie sich keine Sorgen. Wenn die Regale heute eben mal leer sind, dann füllen wir sie am nächsten Tag wieder auf. Wir schaffen das. Muttis Wort in Gottes Ohr. Und so kümmerte ich mich nicht wirklich darum, ob und wann auch bei mir das Klopapier mal knapp werden könnte.
Lange habe ich darüber nachgedacht und Theorien entwickelt, warum es so ist wie es ist. Einen Gedanken hatte ich bisher noch nicht auf dem Schirm: Es muss sie geben, diese Klopapiertouristen. Menschen wie du und ich, die von Ort zu Ort fahren und die Supermärkte der Region abklappern. Mit nur einem Ziel: Klopapier. Klar. Früher fuhren wir in Urlaub. Da konntest du hier auf facebook täglich die tollsten Fotos bewundern und warst, wenn auch zuhause, mittendrin und auf der ganzen Welt zugleich. Seit sich die Zeiten geändert haben, findest du Threads und Apps, die dir den Weg weisen. Fahr zu Aldi, dort gibt es welches. Kaufland hat. Gestern bei Rewe. Und so weiter.
Ja, es ist wirklich krass, um einmal jugendlich zu sprechen, es ist krass, wie sich die wirklich wichtigen Dinge in unserem Leben verschoben haben. Und welch weite Wege wir nun fahren, um einzig und allein diese eine Sache zu haben: Klopapier. Bis gestern fragte ich mich, wohin die in Zeiten einer Quasi-Ausgangssperre eigentlich alle fahren. Heute weiß ich es. Nach Klopapier. Nach Klopapier sind es 50 km, großzügig gerechnet. Das wären wir früher weder für einen Burger noch für ein Eis gefahren. Aber jetzt, wo du Zeit hast, und die Benzinpreise ihr Vierjahrestief erreicht haben, jetzt nimmst du das mal eben mit.
Zugegeben, ich bin eher unvorbereitet an die ganze Sache gegangen. Ich habe mich nicht im Klopapierführer informiert, nicht nachgefragt, nicht auf Nachbarn gehört. Ich bin einfach jugendlich naiv drauf los gefahren. Netto in Kirrlach. Fehlanzeige. Edeka in Kronau. Nichts. Norma in Kronau. Auch nicht. Rewe in Bad Schönborn. Kein Klopapier. Das war am Mittwoch. Rewe in St.Leon. Nichts. Dann wieder Rewe in Bad Schönborn. Ja. Wir haben gerade eine Lieferung bekommen. Auch Klopapier. Aber das dürfen wir nicht verkaufen. Bitte wie ? Wir packen nämlich eine Palette nach der anderen aus. Das Klopapier kommt zuletzt. Klar, dann hält es länger. Vielleicht sollten wir endlich umsteigen auf waschbare, wiederverwertbare Produkte. Foliert, eingeschweißt, tiefgefroren. Große Probleme brauchen kleine, handfeste Lösungen. A propos handfest: Das war er nun also, der handfeste Beweis, dass Kinder die Wahrheit sagen und keiner der Erwachsenen diese Wahrheit hören möchte.
Heute ging sie weiter, meine Tour. Wahrscheinlich muss es sie geben: die Klopapiersammler. So, wie wir früher Souvenirs aus dem Urlaub mitgebracht haben, müssen sie von Ort zu Ort fahren und sich einen Packen als Andenken mitnehmen. Also. Penny Malsch. Nichts. Lidl Mühlhausen. Dort stand er, der nette Mann mit dem Desinfektionsspray. Du schiebst den Wagen zum Eingang, er desinfiziert die Griffleiste, dann schiebst du den Wagen weiter. Und fragst dich: Wozu ? Ich zumindest verstehe nicht, was diese Maßnahme bringen soll. Zumindest kein Klopapier. Auch nicht bei Lidl. Dann zu Edeka, direkt gegenüber. Ab jetzt wurde alles anders. Weil es gewünscht ist, nahm ich jedes Mal einen Einkaufswagen mit in die Märkte. Und weil der Anstand es verlangt und ich so erzogen bin, kaufte ich all überall immer irgendetwas, das ich eigentlich gar nicht brauchte, nur um nicht wie ein Klopapierhamster ohne Klopapier an der Kasse zu stehen. Dort bei Edeka gingen mir die Ideen für Verlegenheitskäufe dann schließlich aus. Nein. Ich hatte keine Idee mehr, was ich außer Klopapier im nun etwa zehnten Supermarkt auf meiner dritten Etappe noch in den Wagen legen könnte. Verdutzt sah mich der Kassierer an. Ein leerer Wagen ? So billig wie hier kaufst du nirgends. Frisch aus der Region. Ja, in diesem Wagen wäre Klopapier, hätte es welches gegeben.
Nun ging das Übel erst los. Hätten Sie wirklich einen ganzen Wagen voll Klopapier gekauft ? Nicht er, nein, der verärgerte Kunde nebenan. Schämen Sie sich nicht, jetzt wo das Klopapier so knapp ist, einen ganzen Wagen davon kaufen zu wollen ? Ich erklärte ihm, dass ich eigentlich nur eine Packung hätte kaufen wollen. In Östringen bei Kaufland, dort gibt es welches. Dort jedoch der gleiche Anblick wie überall zuvor: Kein Klopapier. Erneut stand ich mit leerem Wagen in einer endlos langen Schlange. Sie dürfen gerne vor, wenn Sie nicht mehr haben. Kaufen Sie sich doch etwas zu essen oder zu trinken, wenn es schon kein Klopapier gibt. Die haben Nerven. Dann zu Penny in Östringen – und siehe da: Direkt am Eingang fünf Packen Klopapier. Zwei davon gehören mir. Und aus Anstand noch Tiefkühl-Calamares. Dass es nicht so aussieht, als würde ich ... Es tut mir leid, ich kann Ihnen nur einen Packen davon verkaufen. Das andere Papier ist für die Leute, die vormittags arbeiten. Die möchten abends auch noch Klopapier. Nicht schlecht, diese Philosophie, dachte ich mir, aber im Umkehrschluss hat sie in neun anderen Märkten nicht funktioniert.
Ich schloss die Tür auf, stellte das Klopapier in den Gang und – und ? Nichts. Keine Freude. Keine Extase. Kein – „Oh, du hast doch noch welches gefunden ?“. Nein. Völlige Ignoranz. Als wäre es die normalste Sache auf der Welt, dass Papa Klopapier kaufen war.
Ist es auch. Aber: Drei Dinge lernen wir aus dieser Geschichte. Erstens: Wer Klopapier kauft, der entdeckt die Welt, der kommt rum. Endlich wieder raus. Es wäre nun aber falsch, direkt in diesem Moment nach Östringen zu Penny zu fahren und zu denken, dort gäbe es Klopapier. Schließlich sind hinter mir noch jede Menge anderer Menschen in den Laden – und – nein, Mutti, nicht immer sind Regale, die heute leer sind, morgen wieder aufgefüllt. Zweitens: Früher haben wir unsere Zeit mit anderen Dingen verbracht. Oder in anderen Worten: Nie hätte ich gedacht, dass es Schlimmeres gäbe, als keine Bananen in der Ex-DDR. Schaurig waren sie, diese Geschichtem von ewig langen Schlangen in sozialistischen Einkaufszentren. Und drittens: Mein Ziel war es immer, euch hier Geschichten zu erzählen, die den etwas anderen Blick auf die Wirklichkeit werfen. Diese Geschichte hier ist trauriger Alltag. Aber sie ist gelebte, nein erlebte Wirklichkeit. Dass ich einst über Klopapier schreiben würde, weil das ein Thema ist, das uns alle beschäftigt, das hätte ich nie gedacht.
Die wahre Moral der Geschichte jedoch hängt seit gestern an der Wand: Hört bloß nicht auf das, was unsere Kinder sagen. Sie sagen die Wahrheit. Und die interessiert heutzutage sowieso niemand! Einfacher gesprochen: Wo nix Klopapier, da nix Klopapier. Ende.
RUE – April 2020
DIE IDEE GEHT UM DIE WELT
März 2020
Jammern nützt nichts. Applaudieren auch nicht. Es wird Zeit, etwas zu ändern. Gehen wir es an. Von einem „Danke, dass Ihr da seid“ können „die“ sich nichts kaufen. Deshalb wünsche ich mir, dass möglichst viele von Euch diese Zeilen teilen – in der Hoffnung, dass sie irgendwann bei den richtigen zehn Prozent ankommen und vielleicht wenigstens einer von ihnen mich nicht für einen Spinner hält. Es wäre schön, wenn Ihr mitmachen würdet. Nein – ich bin kein Fan von Kettenbriefen. Aber vielleicht können wir gemeinsam ein soziales Netzwerk dazu nutzen, nach vorne zu denken. Wenn sich diese Nachricht und die Reaktion darauf genau so schnell verbreitet, wie dieses erbärmliche Virus, haben wir tatsächlich eine Chance. Gehen wir es an. Gemeinsam.
An all die großen, ganz wichtigen Menschen dort draußen, die jemanden kennen, der jemand kennt, der im Einzelhandel die Möglichkeit hat, an der Entlohnung der weniger großen aber mindestens genau so wichtigen Mitarbeiter etwas zu verändern
Sehr geehrte Damen und Herren,
die Coronakrise führt uns derzeit täglich vor Augen, wie wichtig die Arbeit der Menschen ist, die in Lebensmittelgeschäften unter Hochdruck für wenig Geld Regale einräumen, an der Kasse sitzen, noch schneller als sonst arbeiten und dennoch stets freundlich und besonnen bleiben.
Die Klopapierkrise wiederum zeigt uns, wie scheinbar unentbehrlich bestimmte Artikel des täglichen Bedarfs für uns geworden sind, über deren Bedeutung wir vor Wochen wahrscheinlich nur geschmunzelt hätten.
Lassen Sie uns zwei einfache Gedanken zusammenfügen. Wenn Angebot und Nachfrage den Preis beeinflussen, gäbe es jetzt die Möglichkeit, über eine veränderte Preispolitik Gerechtigkeit zu finden. Billig war gestern. Fair ist morgen. Ich schlage Ihnen deshalb die folgende Maßnahme vor. Sie werden diese Idee vielleicht belächeln, vielleicht aber werden Sie dennoch in einer ruhigen Minute über meinen Vorschlag nachdenken und ihn möglicherweise teilen:
Erhöhen Sie den Preis für Klopapier um einen Euro je Großpack und lassen Sie diese Preiserhöhung direkt Ihren Mitarbeitern an der Basis zukommen. Nicht nur vorübergehend. Dauerhaft. Wir als Konsument brauchen dieses Klopapier. Wir sollten daher bereit sein, mehr dafür zu zahlen. Wir und Sie brauchen Ihre „kleinen“, aber unendlich wichtigen Mitarbeiter an der Basis. Sie sollten daher ebenso bereit sein, mehr für sie zu zahlen. Ein Euro mehr pro Mitarbeiter und Stunde wäre ein Anfang. Das ist sehr einfach gedacht. ich weiß. Aber Wirtschaft kann einfach sein. So einfach. Wenn man dies möchte.
Sie haben es in der Hand. Sie können etwas an der derzeitigen Situation Ihrer Mitarbeiter ändern. Nehmen Sie die Verantwortung im Sinne einer gerechteren Entlohnung und auf dem Weg zu einer gerechteren Gesellschaft an.
Ich danke Ihnen für den ersten Schritt.
Rüdiger Kamuf
MAL NACHGEDACHT
März 2020
Die andere Wahrheit ist immer eine sehr subjektive. Daran gibt es nichts zu rütteln. Die Frage ist stets, wie wir in einer Krise mit einer Krise umgehen. Eigentlich gibt es nur zwei Möglichkeiten: Verzweiflung oder Kreativität. Ich wähle Kreativität. Und räume deshalb mal etwas auf. Gekehrt wird zunächst im eigenen Haus:
Erstens
Es ist eine Lüge zu behaupten, moderne elektronische Geräte wie Ipads oder Smartphones hätten einen Energiebedarf von quasi Null. In diesem Monat liegt der Energieverbrauch in unserem Haushalt im Schnitt etwa 30% über dem Energieverbrauch des Monats März in den letzten zehn Jahren. Und der Monat ist noch nicht zu Ende. Allein die Tatsache, dass hier täglich mindestens drei solcher Geräte fast permanent am Ladekabel hängen, räumt ein für allemal mit dem Gesabbere auf, moderne digitale Endgeräte seien Energiesparer.
Zweitens
Bitterlichst müssen wir erkennen, dass es gut ist, dass Schulen noch nicht weiter digitalisiert sind, als manch gelbe Parteien es gerne hätten. Wäre dem so, würde unser digitales Universum in diesen Tagen wohl völlig zusammenbrechen. Die Cloud nicht erreichbar, Youtube überlastet, Mailboxen zugemüllt und die Männer vom Lieferservice schaffen es kaum noch, die für jeden Schüler einzeln bestellten Englischlektüren auszuliefern.
Drittens
Der höhere Klopapierkonsum erklärt sich dadurch, dass die Menschen mehr zuhause sind und ihre kleineren und größeren Geschäfte eben nicht mehr im Geschäft verrichten. Wo mehr gegessen und getrunken wird, wird auch mehr entgessen und enttrunken. So einfach ist das. Der örtliche Einzelhandel ist zufrieden. Es boomt, der Konsum steigt, es wird mehr eingekauft und weggefroren, für dann. Und später.
Viertens
Was nützen uns 1,50m Abstand an der Kasse, wenn die Regalgänge in den Märkten nur ein Meter breit sind und Frau F. dir zum wiederholten Mal am Käseregal beweist, dass sie schneller, dicker und stärker als du ist. Ja, da siehst du alt aus. Stehst geduldig daneben und schüttelst den Kopf. An der Kasse halten alle Abstand bis auf den netten Mann im Anzug. Der drängelt sich zwischenrein, schenkt der Kassierein ein Lachen und ist keine 50 cm von dir entfernt. Böse Zungen behaupten auf meine Nachfrage hinterher, es sei der Filialleiter des Supermarkts gewesen.
Fünftens
Den Damen und Herren bei der Bank ist es langweilig. Sie rufen dich an und bitten dich darum, die noch fehlenden Unterlagen für die Kontoauflösung persönlich vorbei zu bringen. Verwundert frage ich nach, ob die Bank denn auch geöffnet habe. Ja, wegen Corona sei nur die andere Filiale auf der Schattenseite des Letzenbergs geschlossen. Ich beschließe, den Botengang noch ein paar Tage zu verschieben.
Sechstens
Heute bekomme ich eine Mail, mein Urlaub sei nicht mehr möglich. Ich möge bitte entscheiden, ob ich ihn verschiebe – wohin auch immer – oder storniere. Es ist erstaunlich, dass wir in dieser bunten Republik Deutschland dann doch so bunt sind, dass jedes Bundesland auch in der achten Woche der Krise noch immer für sich alleine entscheidet, ob es die Grenzen schließt oder nicht. Nicht nach außen. Nach innen, versteht sich.
Siebtens
Der Bürokratismus, den wir in diesen Tagen in Sachen Unterstützung der kleineren Betriebe erleben, kennt erneut keine Gnade. Ein Antrag auf Stundung hier, ein Formular dort. Wann endlich ist es möglich, nur einfach zu handeln, ohne das Leben komplexer als komplex zu machen. Aber stimmt. Wir schlafen. Und haben Zeit genug, uns um Anträge und drei Blaupausen zu kümmern. Im Schlaf. Versteht sich.
Achtens
Danke, dass es euch gibt. Eine unendlich schöne Geste. Unbestritten. Und verdient. Aber warum merken wir nur in einer Krise, dass ein Großteil des Kapitals in diesem Staat in den falschen Händen liegt ? Der alte Spruch, wir kennen ihn: 90% der Menschen verfügen über 10% des Kapitals – und 10% der Menschen über 90% des Kapitals. Welche Schlüsse daraus zu ziehen sind – wir wissen es alle. Ich frage mich, warum wir nicht einfach einmal kurz laut brüllen. Nach der Krise. Wie die Löwen. Um 20 Uhr. So wie wir Lieder singen. Oder applaudieren. Ich möchte nicht sagen, dass es wichtigere oder wertvollere Berufe oder Arbeit oder gar Menschen gibt, die eine x-beliebige, nämlich ihre Arbeit verrichten, und das so gut wie möglich. Aber wenn wir alle ähnlich viel wert sind, mit dem, was wir leisten, wenn jeder, wie Platon einst erkannte, das „Seine tut“, warum können dann Lohnunterschiede so drastisch sein? Wenn der Lehrer den Kindern nichts beibringt, regt sich die Putzfrau auf. Und wenn diese nicht putzt, regt sich der Lehrer auf. So einfach ist das. Beide sind wichtig. Gleich wichtig. Und wie drastisch sind die Unterschiede in deren Bezahlung. Ohne Indianer macht kein Häuptling Sinn. Ohne Kassierer kein Betriebswirt. Ohne LKW-Fahrer kein Logistiker. So einfach ist das.
Neuntens
Es ist falsch, schon jetzt zu glauben, wir seien über dem Berg. Wenn der beste Virologe einfachste mathematische Berechnungen nicht bewerkstelligt, sehe ich mich nicht gut informiert. Nein, erst in ein oder zwei Wochen wissen wir wirklich, ob wir es geschafft haben, die „Kurve abzuflachen“. So lange wissen wir nichts. Gar nichts.
Zehntens
Die Frage ist immer noch, wie globalisiert wir denken. Schlägt die Natur zurück ? Schreit welcher Gott auch immer nach Vergeltung ? Hilft Beten überhaupt ? Regelt ein Virus plötzlich das globale Ernährungs- und Bevölkerungsproblem dadurch, dass es am Ende ganze Völker ausbluten lässt ? Ja, du hast richtig gelesen. In unserem Kulturkreis ist es noch denkbar, eine Quarantäne von zwei Wochen durchzuziehen. Wir sind vernetzt. Gestrickt. Organisiert. Wir wackeln zwar. Aber wir stehen noch. Immer noch kein Mundschutz in den Kliniken, ein Skandal. Jetzt haben wir die halbe Million an Infizierten erreicht, weltweit. In einem Jahr wird es die halbe Milliarde sein, wenn es reicht. Wir können uns annähernd schützen. Uns wehren. Uns die Auszeit gönnen. Was aber macht der Landarbeiter im ärmsten Äthiopien, was der Vater mit zehn Kindern in den Slums von Mexiko-City ? Früher oder später wird das Virus auch dort ankommen. Und die Menschen dort, ohne Strom, ohne sauberes Trinkwasser oder medizinische Versorgung sind chancenlos. Dort wird die Sterberate ein um ein Vielfaches höher sein als hier.
Elftens
Wie gehen wir damit um ? Aus humanitärer Sicht, aber auch aus wirtschaftlicher. Spendengelder werden fließen, eher von NGOs als von staatlicher Seite – und wir werden langfristig merken, dass bestimmte Arbeitsmärkte, Warenmärkte, Handelswege zerbrechen. Die kleine Katastrophe haben wir längst – keine Spargelstecher, keine Erdbeerpflücker, keine Trockenbauer aus Polen und keine Krankenpflegerinnen aus Rumänien.
Zwölftens
Sauber. Nun wäre gekehrt. Vor der eigenen Tür. Ja, es ist fünf vor Zwölf. So deutlich wie noch nie. Schon oft war es fünf vor Zwölf. An einzelnen Stellen. Bei einzelnen Themen. Nun sitzen wir in einer weltweiten Krise und schaffen es kaum, deutsche Lösungen zu finden, europäische Visionen zu entwerfen. Und schon gar nicht, klar zu denken, Medienberichte mit klarem Kopf zu verarbeiten und zu bewerten oder eine Handlungsperspektive für Morgen zu entwickeln. Nein, wir schaffen es auch nach drei Wochen noch immer nicht, Klopapier in Deutschland nach individuellen Bedürfnissen gerecht zu verteilen.
Umso erstaunlicher: Wir tümmeln uns noch immer. Freuen uns an blühenden Bäumen. An den ersten wärmenden Sonnenstrahlen. Wir erinnern uns, wie damals, vor einem Jahr, die Cola im Cafe um die Ecke geschmeckt hat, was ein Biergarten war und dass wir früher an Ostern eine Woche an die Nordsee gefahren sind. Vieles wird relativ. Wir halten uns daran fest. Und verlieren ihn nicht, unseren Optimismus. Wir haben eine verdammt dicke Haut. Und das ist gut so. Uns kann nichts. Mir kann keiner. Der Lebens- und Überlebenstrieb ist immens. Vielleicht kommen wir auch deshalb in diesen Breiten recht sauber durch die Krise. Wir haben die besseren Karten in einem verdammt schlechten Spiel. Lasst es uns gewinnen. Gemeinsam. Und lasst uns danach denen etwas abgeben, die von Anfang an weiter im Süden als Verlierer auf der anderen Seite standen.
RUE – März 2020
DIE LAGEN DER NATION
Die Erklärung eines Phänomens
März 2020
Nein. Man muss kein Psychologe sein, um den „Klopapiereffekt“ erklären zu können. Wir folgen Trends. Der Nachbar tut es, der Chef, der alte Mann, Frau Nachbarin auch. Alle kaufen Klopapier – und keiner weiß wirklich warum.
Es geht hier auch gar nicht wirklich um wissen. Es geht um das Gefühl, schon jetzt oder bald etwas zu missen, das es zu kompensieren gilt. Die Freiheit, sie wird uns fehlen. Und wenn wir schon nicht mehr das tun dürfen, was wir gerne wollen, ist es umso wichtiger, dass die drei Grundfunktionen des menschlichen Daseins erhalten bleiben: Schlafen – kein Problem, dazu ist nun Zeit genug. Essen – vielleicht eher ein Problem, denn die Nudelregale sind leer, die Konserven aufgekauft, während mich diese schrecklich süße, dick machende braune Masse noch immer von allen Seiten anlächelt. Joghurette im Angebot, Familien-Toffis im Viererpack, Gelee-Bananen im Überfluss – nur Klopapier gibt es nicht mehr. Wirklich nicht. Ich hatte es nicht geglaubt. Aber heute Morgen war es soweit: Nicht mehr hier, nicht mehr dort, nirgends. Gerangel um die letzte Packung an anderer Stelle, erste Posts in sozialen Netzwerken, wo wann die Lager wieder gefüllt werden. Ja, die dritte Sache, die mit dem „Müssen“, muss man nun durchaus kritischer sehen.
Ich bin schon seit Jahren ein Vorratskäufer. Ich nutze Angebote und habe eigentlich meist von den Dingen, die da wichtig sind, genug zuhause. Nicht selten schaut man mich an der Kasse an und fragt verwundert, wie groß meine Familie sei. Dennoch hatte ich nie den Eindruck zu hamstern. Nun plötzlich werden in den Medien die Sinne für eben dieses Verhalten geschärft. Plötzlich nimmt man solche wie mich mit anderen Augen wahr – oder wahrer als sonst. Man legt den Schalter um, glaubt etwas zu suchen, etwas dringend zu brauchen und findet sein Glück in ein paar Rollen Zellstoff. Eine stabile Geldanlage in Zeiten fallender Aktienkurse ist Klopapier nicht gerade, aber es beruhigt. Nun hat man wieder genug – und die Krise ist gemeistert.
Mich indes trifft sie zunächst nicht wirklich. Ich habe ja vor Wochen schon genug gekauft und noch immer ein paar Rollen zuhause. Aber irgendwann wird es auch bei mir knapp. Nachschub würde geliefert, sagt man. Aber nicht in den Mengen. Und wenn er dann kommt. Schwupp. Ist er wieder weg.
Wir Menschen verhalten uns seltsam. Und dennoch wägen wir uns, wenn wir Gleiches wie andere Menschen tun, in Sicherheit. Würde morgen das Gehamstere nach Lockenwicklern beginnen, gäbe es doch schon übermorgen keine mehr zu kaufen. Wir sind es gewohnt im Überfluss zu leben – und kaum ist das Regal leer, werden wir panisch, räuberisch, kanibalistisch.
Ich hatte es nie für möglich gehalten, dass es uns jemals an essenziellen Dingen fehlen könnte. Nun ist dem vielleicht so. Vielleicht aber verunsichert uns gar nicht das fehlende Klopapier, sondern der Gedanke, dass andere mehr kaufen, mehr haben, als wir selbst. Und genau darin liegt der Unterschied: Ein Päckchen Lockenwickler würde nie eben die Karriere einer Rolle Klopapier machen können. Klopapier macht etwas her. Es gibt kaum etwas Größeres in einem Supermarkt, als ein Big-Pack Klopapier mit 16 Rollen, vor allem wenn es fünf-, sechs- oder zwölflagig ist. Man denkt also man hätte sich mit Vorräten eingedeckt. Statt dessen kauft man: Luft – Luft zwischen den Rollen, in der Mitte der Rollen, zwischen den Lagen – Luft, nichts als Luft. Und selbst wenn wir dann merken, dass die Luft um uns herum enger, schlechter, dünner wird, reagieren wir erneut. Massiver, brutaler als zuvor. Und es stinkt zum Himmel.
Ich wünsche uns, dass wir nicht wirklich glauben, mit Klopapierbergen eine Coronakrise meistern zu können. Aber wer es braucht, dem sei es gegönnt. Und sollte einer wirklich merken, dass ihm die Vorräte über den Kopf wachsen – ich würde durchaus ein paar Rollen davon nehmen !
aus:
RUE – „Trends“
MÄRZ 2020
BROT UND SPIELE - DIE ZWEITE
März 2020
Haben wir uns nicht alle schon immer gewünscht, statt zwei Wochen einmal fünf Wochen Ferien zu haben ? Endlich Zeit. Endlich Pause. Das wäre mal cool. Faul die Füße hochlegen und so tun wie an Weihnachten. Entschleunigen. Einfrieren. Und in einen tiefen Schlaf verfallen.
Ausgerechnet jetzt, wo es Frühling wird und die ersten Bäume blühen, ist es so weit. Nicht freiwillig. Angeordnet. Das ist so ganz unbiologisch. Der Körper schreit nach Bewegung, ruft nach frischer Luft, ist bereit für den Aufbruch in ein neues Leben. Und dann das.
Schüler jubeln, Lehrer zweifeln oder verzweifeln an der Herausforderung, von jetzt auf nachher vom Pädagogen zum digitalen Aufgabensteller zu werden und Paulchens Mutter hat einmal mehr keine Ahnung, wie sie das Geld für den nächsten Monat verdient oder ihren Zwerg ab nächster Woche vormittags unterbringt, zuhause schulisch beschäftigt oder überhaupt noch kontrollieren kann, was er den ganzen Tag treibt. Eine Woche Fortnite wird spaßig sein, aber mit der Zeit wird sie kommen, die Langeweile. Es wird viel zu drucken geben, packen wirs an ! Schulen werden ihre Klassen auf digitalen Lernplattformen registrieren, zu denen viele Kinder niemals einen physischen oder emotionalen Zugang finden werden. Aufgabenblätter werden gemailt, doch wie immer schreit der Drucker nach Tinte und das Papier ist leer. Parteien weinen, weil sie es längst vorhergesehen haben, dass der Schule der digitale Zugang fehlt und Verlage reiben sich die Hände, weil es endlich eine neue Einnahmequelle gibt.
Mein Vater sitzt indes zuhause. Ich rödle, er fragt sich, wie es weiter geht. Das ist fast so schlimm wie Krieg. Zeitung lesen wäre prima, aber was ist, wenn sie im falschen Briefkasten landet ? Der Nachbar ist gestorben, nicht am Virus, nein, aber die Teilnahme an einer Beerdigung ist fragwürdig. Fußballprofis atmen erleichtert durch, die Spiele sind abgesetzt und müssen nicht vor einer Geisterkulisse ausgetragen werden. Das Leben verändert sich. Subtil, schrittweise. Und dennoch in einem noch nie da gewesenen Ausmaß. Ich hatte bisher das Glück, über fünfzig Jahre in Frieden und vor allem gesund auf diesem Planeten leben zu dürfen. Klar, es gab Probleme. Große und kleine Probleme. Aber die Show ging weiter, immer weiter. Wir wurden und waren satt. Immer. Am Ende gab es von allem für jeden genug. Nie waren sie leer die Regale. Nie kippte die Stimmung. Wir schafften das schon. Damals. Und auch noch gestern.
Nun empfinden wir es als bedrohlich, dass uns die „Spiele“ plötzlich wegbrechen. Konzerte - abgesagt, Tanzen - verboten, Lokale - kurz vor der Schließung. Der Spaßfaktor wird uns genommen. Auch von oben. Ob das überhaupt sein darf, fragen welche. Das Recht auf Freizügigkeit, auf Versammlung, ist ein Grundrecht, das eigentlich unantastbar ist. Und nun, Jahre später erinnern wir uns daran, dass die Grenzen in andere Länder auch schon einmal geschlossen waren. Damals war es Alltag. Wir haben es vergessen. Und halten es für bedrohlich. Ob man ein Virus als unerlaubten Grenzgänger entlarven kann, halte ich für fragwürdig. Die Maßnahme der großräumigen Schließungen kann ich aber nachvollziehen. Kleinere Einheiten. Kleineres Risiko.
Innehalten ist immer eine Chance. Wir haben momentan nur ein einziges, wirkliches Problem in unserem Land: Was ist, wenn die medizinische Versorgung zusammenbricht ? Wenn es aufgrund von Hamsterkäufen kein Desinfektionsmittel, keine Handschuhe, keinen Mundschutz mehr gibt ? Wird die Krise erst einmal überstanden sein, werden wir unsere Ärzte und Pfleger hoffieren, wir werden sie zu den Menschen des Jahres kühren und uns schon zwei Wochen später bei den nächsten Tarifverhandlungen nicht mehr an das erinnern, was sie wirklich geleistet haben.
Unterrichtsausfall ist aus schulischer Sicht kein wirkliches Problem. Wir alle, die daran beteiligt sind, geben unser Bestes. Was wir nicht brauchen, sind minutengenaue Videokonferenzen, 1:1-Arbeitsblätter und das Erfassen neuer digitaler Welten. Was wir aber brauchen ist Zeit, um die längst entlaufene Vernunft wieder einzufangen. „Herr Kamuf, Gott rächt sich“ – so die Aussage eines Schülers am gestrigen Freitag. Nein. Es geht nicht um Rache, um Vergeltung, um Schwarzmalerei. Es geht um eine Chance. Jetzt endlich geht es um die Chance, ein ausbalanciertes Gefühl zwischen täglichen, unnötigen, kleinsten Scheinkatastrophen und wirklich ernst zu nehmenden globalen Problemen zu finden. Diese Balance muss jeder für sich finden. Zeit genug darüber nachzudenken, werden wir in den nächsten Tagen und Wochen haben.
Das tägliche „Brot“ hat uns indes noch keiner genommen. Das Wasser läuft, die Hände können gewaschen werden. Die Versorgung mit Licht, Strom, Wärme bleibt bestehen. Der Briefträger wird weiterhin den Briefkasten füttern und selbst das Klopapier wird, wenn es nicht wirklich beschissen läuft, nicht knapp werden. Vielleicht braucht die Nachbarin Hilfe. Wir sollten die Augen offen halten, damit auch sie ihr tägliches Brot bekommen wird. Die Fernsehsender, die Zeitungsmacher, die sozialen Netzwerke, die Stammtischbrüder werden uns mit Informationen füttern, dass es uns nur so schlecht wird. An dieser Stelle wünsche ich mir ausdrücklich, dass ein jeder, der Informationen weiter gibt, dies mit der maximalen Verantwortung tut und dass ein jeder, der sie empfängt, mit maximalem Verstand darüber nachdenkt.
Wir sollen Abstand halten, aber in Wirklichkeit werden wir viel enger zusammen rücken. Es wird langfristig auf dieser Erde nicht mehr darum gehen, welcher Staat wirtschaftlich führend ist und die dicken Kartoffeln nach Hause bringt. Es wird darum gehen, globale Probleme global zu meistern. Bisher waren wir als Menschen in Deutschland immer vorne mit dabei. Ein TOP-10-Platz im Sport, in der Bildung, in der Wirtschaft. Ein extrem hohes Lohnniveau, das uns einen materiellen und immateriellen Luxus ermöglichte, wie er Vergleichbares auf der Erde sucht. Schließlich auch verschont von Krieg, von jeglichen wirklichen Katastrophen. Nun plötzlich spüren wir, dass wir genau so verwundbar sind, wie Menschen, die in einem Billiglohnland in Afrika oder Asien leben, und denen der Reis vertrocknet. Nur trifft es uns härter. Viel härter. Wir sind es nicht gewohnt. Und scheinen gleich morgen daran zu zerbrechen.
Unser tägliches Brot gib uns heute. Ich hoffe, dass wir wissen, welches Brot wir wirklich brauchen. Besonnenheit, Demut, Dankbarkeit. Und Ruhe. Die Ruhe, das, was auf uns zukommt, auszuhalten.
BLEIBT GESUND DORT DRAUSSEN !
RUE – IM MÄRZ 2020
DREI DINGE
Vor etwa vier Jahren habe diesen Songtext geschrieben.
Aus leider unfassbar traurigem Anlass wird es Zeit, ihn noch einmal zu lesen ...
Es könnte besser laufen – als es läuft.
Schlecht - läuft es aber nicht.
Es könnte besser gehen - als es geht.
Schlecht – geht es aber nicht.
Dort auf Feldern, wo sich Menschen barbarisch verfolgen.
Dort gibt es sie nicht. Nein – dort gibt es sie nicht.
Drei Dinge braucht der Mann, und ich sag dir welche.
Drei Schlüssel zum Glück.
Lass ihm seinen Glauben.
Gib ihm sein Vertrauen zurück.
Toleranz ist der erste Schritt.
Es könnte besser laufen – als es läuft.
Schlecht - läuft es aber nicht.
Wir könnten reicher sein – als wir sind.
Wirklich arm – sind wir aber nicht.
Dort in Städten, wo Träume zwischen Bomben zerplatzen.
Dort gibt es sie nicht. Nein – dort gibt es sie nicht.
Drei Dinge braucht der Mann, und ich sag dir welche.
Drei Schlüssel zum Glück.
Begegne ihm mit Achtung.
Gib ihm seine Würde zurück.
Respekt ist der zweite Schritt.
Es könnte besser laufen – als es läuft.
Schlecht - läuft es aber nicht.
Wir könnten freier sein – als wir sind.
Doch gefangen – sind wir nicht.
Dort in Ländern, wo man Menschen den Mund verbietet.
Dort geht das nicht. Nein – dort geht das nicht.
Drei Dinge braucht der Mann, und ich sag dir welche.
Drei Schlüssel zum Glück.
Sei dankbar und bescheiden.
Hol dir den Augenblick zurück.
Zufriedenheit ist der dritte Schritt.
Drei Dinge braucht der Mann, und ich halte dir.
Den Spiegel vors Gesicht.
Geh diesen Schritt.
Setz die Maske ab.
Damit – damit es klappt.
RUE - JUNI 2016
aus dem rue - "spiegelbilder"-album
KRIEGSSPIELE
Januar 2020
Mein Computer hat mir den Krieg erklärt. Der Bildschirm ist defekt, ich brauche einen neuen. Das ist nicht ganz einfach, wenn er mit Depedeh geliefert wird und ich nicht zuhause bin, wenn der flotte Fahrer am Haus vorbei fährt und erkennt - „Aha, da steht kein Auto. Da halte ich nicht an. Da werfe ich auch keinen Zettel in den Briefkasten. Der soll sehen, wo er seinen Bildschirm abholt“. Ich liebe sie, diese Spiele. Ich fahre nach hier, nach da, nach dort. Kein Bildschirm weit und breit. Und ich verpasse glatt, wie im Nahen Osten Flugzeuge vom Himmel fallen.
Ich beginne ihn, den Kleinkrieg mit dem Verkäufer. Eine Mail hin. Eine Mail her. Wer haftet wohl, wer kümmert sich und wer sorgt dafür, dass Blinde wieder sehen ? Ich würde gerne vom Kauf zurück treten. – „Kein Problem, das können Sie gerne tun, wenn Sie uns den Bildschirm wieder zurückgeschickt haben.“ – Lujanoamol ! Wie kann ich einen Bildschirm zurück schicken, der nie bei mir angekommen ist, nie ankommen wird und in keinem Paketshop der Welt hinterlegt ist. Und ich verpasse schon wieder, wie im Nahen Osten Flugzeuge vom Himmel fallen.
Der Drucker gibt den Geist auf. Am gleichen Tag. Bestelle zwei für einen. Das ist schon krass. Es gibt nämlich keinen mehr, der scannen, kopieren und auch noch CDs bedrucken kann. Klar. CDs braucht keiner mehr. Kopieren sparen wir uns, wir screenshotten nur noch. Und scannen ist sinnlos, weil sie sowieso längst alles über mich wissen. Kaufe zwei und du kaufst tatsächlich billiger. Die Wiederbeschaffung meines bisherigen Druckers ist doppelt so teuer, wie wenn ich zwei Einzelgeräte kaufe. Das ist nachhaltig, spart Platz, Zeit und Energie. Und: Ich habe gleich zwei Drucker, die ich in exakt zwei Jahren nach Ablauf des Haltbarkeitsdatums durch vier Drucker ersetzen werde. In zwanzig Jahren werde ich also eintausendvierundzwanzig Drucker in meiner Wohnung stehen haben. Oder doppelt so viele. Je nachdem, ob „n=0“ oder „n=1“ ist – ihr wisst schon, wen ich meine ! Und ich verpasse in der Zwischenzeit schon wieder, wie im Nahen Osten Flugzeuge vom Himmel fallen.
Nicht genug: Auch mein neuer Koffer, der erst seit zwei Wochen in Betrieb ist, hat einen Plattfuß. Das ist längst kein Beinbruch, aber er läuft eben etwas holprig. Seither. Kein Problem. „Schicken Sie den defekten Koffer im Originalkarton zurück, und Sie erhalten prompt ein neues Exemplar. Dieses ist nicht vorrätig. Gedulden Sie sich etwa drei Wochen. Und wenn Sie möchten, verwenden Sie den Karton des Ersatzexemplars für Ihre kostenlose Retoure. Das gibt es nur bei uns. Wir freuen uns, dass Sie unser Kunde sind. Best regards.“ Und ich verpasse in der Zwischenzeit schon wieder, wie sie im Fernsehen versuchen zu erklären, warum im Nahen Osten Flugzeuge vom Himmel fallen.
Zurück von meinem Feldzug gegen die überaus feindliche, technische Welt, lese ich, dass wir noch in diesem Frühjahr den Ernstfall proben. Da werden Fahrzeuge transportiert. Vom amerikanischen Westen einmal quer durch die Republik. Von Nord nach Süd. Und dann vor allem in den Osten. Weit in den Osten. Am besten nach Polen. Da sind sie gut aufgehoben, diese Fahrzeuge. Direkt vor die Nase von Onkel Putin. Und der wird natürlich ganz sicher glauben, dass wir nur eine strategische Übung üben. Auch das Volk hier und dort wird glauben, dass wir nur eine strategische Übung üben. Wir lachen über Trumpp und seine Amerikaner. Und irgendwann fallen dann Flugzeuge vom Himmel. Dieses Mal im „nahen“ Osten – nicht im „Nahen“ Osten !
Als ich vor zwei Wochen an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze am „Point Alpha“ stand, habe ich versucht, meinen Kindern zu erklären, was der „Kalte Krieg“ war. Und welch ein Glück sie haben, in eine zumindest in Deutschland friedliche Zeit geboren zu sein. Und plötzlich spielen andere Menschen Kriegsspiele, die auch unter 18 frei und so gar nicht digital sind ? Weltkrieg Version 2020.3. Als kostenloser Download. Ohne Sicherheitssysteme. Von Norton ignoriert. Firewall nutzlos ? - Man kann zur Notwendigkeit militärischer und strategischer Übungen stehen wie man möchte. Und die NATO für heilig halten oder nicht. Ich verstehe an dieser Übung – oder ist sie nur ein Spiel ? - nicht und nicht und wieder nicht und überhaupt nicht, warum in einer Zeit der neuen politischen Anspannung der Ernstfall ausgerechnet auch hier in Deutschland geprobt werden soll. Warum wir erneut zwischen links und rechts, West und Ost, Gut und Böse, gestellt werden, wo für meine Begriffe eigentlich längst geklärt war, dass wir spätestens seit dem – provokant aus ehemaliger, verwitterter Ostsicht formuliert - Beitritt der DDR zur BRD, im Westen auch Wiedervereinigung genannt, aus dieser Nummer raus sein sollten ?
Es läuft so ähnlich ab. Nur unauffällig und viel raffinierter gemacht. So zitiert Wolfgang Niedecken schon Anfang der 80er George Orwell. Ich habe großen Respekt, nein sogar Angst davor, dass um uns herum der Aufstand geprobt wird, und wir Austragungsort dieses Aufstands werden, ohne es, ohne ihn zu merken. Zugleich fühle ich mich ohnmächtig. Klein. Ich weiß nicht, ob ich ein solches Manöver ertragen möchte oder muss. Ich weiß nicht, ob es richtig ist, dass Andere um mich herum Krieg spielen, wenn dort, im „Nahen“ Osten noch immer die Flugzeuge vom Himmel fallen und wohl nie objektiv geklärt sein wird, warum dies geschieht !
Das neue Jahr fängt ja gut an. Fakt ist, dass der Kleinkrieg, den wir täglich in unserem engsten Umfeld führen, mindestens so unnötig ist, wie die kleinen Kriegsspiele großer Politiker. Und nicht zuletzt deshalb muss spätestens jetzt eine gewaltige Portion Manöverkritik angebracht sein. Im Großen. Und im Kleinen.
aus:
RUE – Seid wachsam !
Januar 2020
DAS EXPERIMENT
Jetzt in voller Länge ...
Dezember 2019
Eine Woche vor Weihnachten. Ich habe es gemacht. Endlich. Ich habe mich getraut. Ich bin einfach aufgestanden. Aufgestanden. Und gegangen. Während der Klassenarbeit. Klar, es kommt schon einmal vor, dass jemand aufsteht und geht. Auch während einer Klassenarbeit. Aber dass der Lehrer geht ? – Damit hatten sie, meine Schüler, nicht gerechnet.
Etwa die Hälfte der Zeit, die sie für die Klassenarbeit hatten, war um. Ich ging zu dieser Tür, öffnete sie und verließ den Raum. Dort war es nun leiser als zuvor. Keiner mehr, der sinnlos „Gesundheit“ rief, keiner, der sich zum fünften Mal einen Tintenkiller ausleihen musste, an einer Capri-Sonne lutschte, seinen Spickzettel suchte und nicht fand, oder Schweißausbrüche bekam, wenn ich hinter ihm stand. Klar. Ich konnte all das nicht sehen. Aber ich wusste es. Ich wusste, dass es ohne mich zumindest nicht schlechter laufen konnte. Wir waren entspannt. Entspannter denn je. Die Truppe im Saal. Und ich, der Mann dort draußen auf der Bank.
Erst nach einigen Minuten öffnete sich die Tür. Ich hatte damit gerechnet, dass man mich fragen würde, warum ich gegangen sei. Nichts dergleichen. „Ich muss nur mal auf die Toilette. Bin gleich wieder da!“. Weg war er. Und nur eine Minute später saß er wieder auf seinem Platz im Klassenzimmer. Natürlich machte ich mir ernsthafte Gedanken, wer mittlerweile von wem hat abschreiben können. Je länger ich darüber nachdachte, desto gelassener war ich. Paul weiß eh nichts. Diese Schrift von Peter ? Wer soll die schon lesen können ? Und Christa würde bestimmt nie auch nur einen anderen Schüler abschreiben lassen. Dazu war sie zu ehrgeizig. Nicht etwa zu strebsam, nein. Aber gerechter Lohn muss schon sein.
Was hatten wir in den Tagen zuvor über Anstand, über Moral, über Gewissensbisse, aber auch über Vertrauen geredet. Über das, was man tun darf, aber nicht sollte. Und über das, was man nicht tun sollte und dennoch darf. „Ich hatte die Schnauze voll von euch !“ würde ich ihnen sagen, wenn sie mich fragen würden, warum ich gegangen bin. „Voll von einer Truppe, in der fast nur lustlose Schnarchnasen oder Einzelkämpfer sitzen, denen es meist egal ist, ob unter der Arbeit eine Eins oder eine Sechs steht.“ - Der Haken war nur: Keiner stellte sie, diese Frage. Nicht vor der Tür. Und auch nicht später, als ich wieder in das Zimmer kam.
Etwa fünfzehn Minuten waren sie ohne Lehrer. Zeit genug, jedes noch so üble Schülerverbrechen zu begehen, das sich ein Lehrer in Sachen Täuschungsversuch bei einer Klassenarbeit auch nur irgendwie hätte vorstellen können. „Meine Lieben“, begann ich meine Rede am Ende der Klassenarbeit. „Meine Lieben. Ich habe heute ein Experiment gewagt. Ein Experiment, vom ich nicht wusste, ob es gelingen oder scheitern wird.“ - Mit großen Augen blickten sie mich an: „Welches Experiment ?“ fragte Anna erstaunt. „Es ist nicht selbstverständlich, dass ein Lehrer während einer Arbeit aufsteht und den Raum verlässt. Er weiß in dieser Zeit nicht, was in dem Raum geschieht. Er weiß nicht, ob das teils blinde Vertrauen, das er seit Jahren in seine Schüler setzt, erwidert oder missbraucht wird. Er weiß nicht, ob sie auch nur etwas von dem, was er ihnen seit Jahren versucht beizubringen, wirklich verstanden haben.“ – „Sie wollen uns sagen, dass sie die ganze Zeit ...?“ – „Nicht die ganze Zeit, aber lange genug, um bei der Korrektur der Klassenarbeiten zu merken, ob ihr es mit mir so gut und so ehrlich meint, wie ich es mit euch meine.“ – Noch nie war er, der alte Klugscheißer, Besserwisser, Möchtegernschülerkenner in der misslichen Lage nicht beurteilen zu können, ob sie es wirklich nicht gemerkt hatten, dass er den Raum verlassen hatte, oder ob sie nur so taten. Und schon gar nicht jetzt, wo das Experiment eigentlich beendet war, aber gerade erst begann.
„Versetzt euch mal in meine Lage ...“, fuhr ich fort. „Versetzen Sie sich doch mal in unsere Lage“ riefen sie mir zurück „gestern diese Arbeit, heute jene, dazu noch einen Test. Und überhaupt!“ – So konnte das nichts werden. Nein, so würde es nie eine Chance geben, mit ihnen jemals zusammen zu kommen. „Okay, ich verstehe, ihr habt immensen Stress. Aber warum habt ihr gemogelt, als ich draußen war? Warum habt ihr abgeschrieben, obwohl wir gestern erst darüber geredet haben, welch ein schlechtes Gewissen ihr danach haben solltet?“ – „Aber wir haben doch gar nicht ...“ – „Nun lügt ihr auch noch. Keiner, keiner traut sich die Wahrheit zu sagen. Keiner gibt zu, was doch längst alle, ihr und ich, wissen. Hey, das Leben ist nicht dunkelrot. Es hat auch keinen langen, weißen Bart. Ihr glaubt nicht an den Weihnachtsmann. Und ich auch nicht!“ – „Aber es ist doch gar nicht so, wie Sie denken ... „ – Mist. Ich wusste längst nicht mehr, ob ich nun ihnen oder mir glauben sollte. Es war doch klar, was in meiner Abwesenheit in diesem Raum geschehen sein musste. Alle Schüler hätten es getan – oder etwa nicht ? Haben sie vielleicht doch ... ? Undenkbar. Nein. So ehrlich sind Schüler nicht.
Ich versuchte den Diskurs in eine andere Richtung zu steuern. „Okay, passt mal auf. Ich werde die Klassenarbeit werten. Ich werde sie werten, wenn ich mir sicher bin, dass ihr keinen ausgeschlossen habt!“ – Damit hatten sie nicht gerechnet. Ich ehrlich gesagt auch nicht. Ich erkannte mich nicht wieder. Aber wer den Schülern immer davon erzählt, mal über seinen eigenen Schatten zu springen, der sollte es selbst ebenso tun. „Sie meinen also ... Wenn alle die Arbeit richtig gelöst haben, dann bekommen alle eine eins ?“ – „So in etwa. Aber da ich weiß, dass ihr das eh nicht geschafft habt, werde ich wie gewohnt eher Fünfen und Sechser verteilen. Es wird welche unter euch geben, die zu ehrlich waren, um zu mogeln. Sie haben es richtig gemacht. Andere werden großherzig gewesen sein und dem Nachbarn kostenlos oder vielleicht auch gegen eine Cola auf die Sprünge geholfen haben. Ersteres ist in Ordnung, zweiteres nutzt die Schwäche eines anderen aus. Wer so gehandelt hat, der sollte sich schämen. Wieder andere haben vielleicht abgeschrieben, um sich eine gute Note zu sichern. Ohne ihre grauen Zellen anzustrengen. Das macht man nicht. Und das wisst ihr genau. Wir haben schließlich gestern darüber gesprochen.“ – „Und was macht Sie so sicher, dass dem so ist, wie Sie es schildern ?“ – „Ganz einfach: Ich kenne euch. Das ist genug!“
Niemand kannte ich. Da saß ich nun am Schreibtisch und korrigierte sie, diese letzte Arbeit vor Weihnachten. Die sonst so sichere Christa machte erstaunlich viele Rechtschreibfehler. Ob sie verunsichert war, weil ich nicht im Zimmer war ? Peter jedoch schrieb für seine Verhältnisse ungewohnt leserlich. Und auch Paul, der sonst nicht viel zu schreiben hatte, hatte unglaublich viel auf seinem Blatt stehen. Als ich begann, die Klassenarbeiten zu lesen, traute ich meinen Augen nicht. Tatsächlich stand auf jedem Bogen ein und derselbe Text. Ich zweifelte kurz. Nein, es war kein Diktat, das wir geschrieben hatten. Wie war das möglich ? Und dazu noch bei dieser einen und einzigen Frage ?
Irgend etwas musste sie gepackt haben. Was es war, ich konnte es mir nicht erklären. Eine wild zusammen gewürfelte Truppe aus Schulschwänzern, Faulenzern und dieser einen Streberin hatte es tatsächlich geschafft, zum ersten Mal wirklich gemeinsame Sache zu machen. Ich wusste nicht wirklich, ob ich mich freuen oder ärgern sollte. Freuen darüber, dass sie mich tatsächlich geschlagen hatten. Oder ärgern darüber, dass ich nun jedem eine gute Note geben musste ? Freuen darüber, dass sie mehr schafften, als ich je von ihnen dachte ? Oder ärgern darüber, dass mein Experiment gescheitert war. - Gescheitert war ? War es wirklich gescheitert ?
Gut, einige schafften es nicht, Christas Name im oberen Feld gegen ihren eigenen auszutauschen, aber am Ende hatte jede Antwort dank der verschiedenen Schriftbilder dennoch ihre eigene, persönliche Note und so konnte, nein wollte ich mein Versprechen einlösen, und ihnen allen tatsächlich eine gute Note geben.
Fast hätte ich es vergessen: Der sonst so faule Paul hatte dieses Mal sogar noch einen Satz mehr als all seine Mitschüler geschrieben. Ausgerechnet er. Unter seiner Arbeit stand: „Danke, dass Sie vor die Tür gegangen sind, Herr Ka. Ich glaube, das hat mich gerettet. Mit dieser Note kann ich bestimmt meine Mathe-Fünf ausgleichen. Frohe Weihnachten, Herr Ka.“ – Dieser Mistkerl, ausgerechnet dieser Mistkerl. Mogelt was das Zeug hält. - Und hat das Herz dennoch am rechten Fleck ...
Wahrscheinlich fragt ihr euch, welche Aufgabe die Schüler bei der Arbeit zu bearbeiten hatten. Ganz einfach. Es war diese. Ich habe ihnen exakt diese Geschichte vorgelegt und sie entscheiden und begründen lassen, ob das Experiment nun geglückt oder gescheitert war. Die fleißige Christa meldete sich. Auch Peter hob den Finger. An diesem Tag aber durfte Paul, wahrscheinlich zum ersten Mal in seinem Leben, die richtige Lösung einer Klassenarbeitsaufgabe vorlesen: „Das Experiment, Herr Ka, ist gelungen. Wir haben verstanden, was sie uns mit der Geschichte sagen wollten. Wir werden künftig zusammenhalten. Und auch nie wieder mogeln. Sie können sich auf uns verlassen.“ – „Paul ?“ – „Ja, Herr Ka ?“ – „Paul ?“ – „Okay, Herr Ka. Das hat Christa geschrieben. Aber wenn ich besser in der Schule wäre, hätte ich es genau so wie sie aufgeschrieben! Das ist nicht gelogen. Ehrenwort!“
Christa, Peter, Paul und die anderen hatten also verstanden, um was es im Leben wirklich geht. Ich für meinen Teil habe in diesem Moment auch etwas verstanden: meine Schüler. Ob Christa ausgerechnet in einer Weihnachtsgeschichte nur zufällig Christa heißt, weiß ich nicht. Noch nicht. Aber ich werde sie fragen. Und mir etwas wünschen. Denn an Weihnachten, meine Lieben, gehen manchmal auch die seltsamsten Wünsche in Erfüllung. - „Das stimmt Herr Ka. Wir wünschen Ihnen auch schöne Weihnachten ...“ – Hoppla, da hatte ich wohl wieder einmal laut gedacht. Nun denn. Irgendwie wusste ich in diesem Moment aber, dass es vor dieser Truppe fortan erlaubt, nein vielleicht sogar erwünscht war, laut zu träumen. Zu träumen von einer anderen Schule. Und sogar von mutigen, aber am Ende gewonnenen Experimenten ...
aus:
Auf der Suche nach der Wahrheit ...
RUE – Dezember 2019
GREEN SATURDAY
November 2019
Weil der Black Friday ganz einfach BLACK F R I D A Y heißt, fängt er in den meisten Läden schon donnerstags an. Manche Anbieter machen im Netz daraus auch eine BLACK FRIDAY WEEK, ein Paradoxon an sich. Hätten wir freitags tatsächlich frei, wäre künftig die ganze Woche frei. Nicht schlecht. Keiner würde arbeiten, und der Rubel würde dennoch rollen. So kaufen wir. Eine ganze Woche lang. Dinge, die wir nicht brauchen. Wir fiebern auf diese Woche hin, als wären wir kleine Kinder, die darauf warten, endlich das erste Türchen des Adventkalenders öffnen zu können. Sind wir auch. Wir bereiten uns schließlich vor. Auf den, der da kommen wird. Nein, nicht Gott in Gestalt seines Sohnes, Jesus Christus. Der, der dort an der Tür klingelt ist der Mann in rot-gelb. Der nette Kerl von nebenan. Der Fahrer von DHL. Habe ich ein Paket für Nachbarn. Kannst du nehmen ? Wieder nicht für mich. Wann kommt er denn endlich, mein Beamer. Ach so – ich habe ihn ja noch gar nicht bestellt. Ich habe gesucht, verglichen, gecheckt und idealerweise auch prompt heute bei Media-Markt das unschlagbare BLACK-FRIDAY-ANGEBOT gefunden. Statt 539,- Euro UVP nur schlappe 345,- Euro. Welch eine Ersparnis. 35%. Aber Moment mal – seit Wochen beobachte ich diesen Artikel auf zahlreichen Portalen anderer Anbieter. Seit Wochen gibt es ihn an anderer Stelle für schlappe 344,- Euro. Willkommen, mein lieber Konsument. Willkommen zum Black Friday. Der Hunger nach dir ist groß. Und ebenso nach deinem Geld. Okay. Es gibt sie, diese Spielverderber wie mich. Einzelne, die sich nicht täuschen lassen. Zumindest nicht hier. Nicht an dieser Stelle. Mich hat er nicht, der Black Friday. Ich entscheide selbst, wann und was ich bestelle. Meine ich.
Liest man zur Geschichte des Black Friday, so findet man einhellig die Idee, dass er im Handel tatsächlich eingeführt wurde, um die Weihnachtsgeschäfte anzukurbeln. Als hätten und würden wir nicht sowieso schon immer bergeweise Geschenke kaufen, die keiner braucht. Pralinen für Mutter, eine Krawatte für Vater, Zigarren für Opa, dritte Zähne für Oma, endlich gute Laune und ein Lachen für Schwiegermama, und wenn noch etwas übrig bleibt auch etwas Brot für die Welt. Feinfühlig werden wir gelotst, gesteuert, überwacht. George Orwell hatte es ja damals schon kommen sehen. Seit 35 Jahren stehen wir unter völliger Kontrolle. Nicht unbedingt politisch. Das würde uns auffallen. Aber woher zum Teufel weiß dieses Navi, dass der Diesel an der nächsten Tanke 1,209 kostet. Warum empfliehlt mir dieser Rechner tatsächlich erneut eine Hose in Größe 52, wo er doch gar nicht weiß, ob sie mir gepasst hat. Dass Katzen Whiskas kaufen würden, das wissen wir längst. Aber woher wissen die das in der Werbung ? Ich glaube nicht, dass meine Katze den Unterschied zwischen Whiskas und Weißwas schmecken würde. Der Mensch merkt schließlich spätestens nach dem dritten Glas auch nicht mehr, ob er Wiskey oder Wasauchimmer trinkt. Manchmal zumindest.
Wir sind also angekommen. Längst bevor der erste Advent die Chance hat, die eigentliche Zeit des Ankommens einzuläuten. Wir sind angekommen in einer völlig fremdgesteuerten Welt – und merken es nicht einmal. Künstliche Intelligenz ist dann wirklich gut, wenn sie selbst nicht mehr merkt, dass sie künstlich ist. Hey, Alexa, bring mir ein Brot. Das kann doch nicht klappen. Meine Frau bringt mir auch kein Brot, wenn ich danach rufe. Hey, Siri, hol mir mal ein Bier aus dem Keller. Das hat damals vielleicht noch funktioniert, als mein Vater mich danach schickte und zur Belohnung ein Päckchen Gummibärchen aussetzte. Damals waren die Mechanismen einfach. Und durchschaubar. Es war ein einfaches Spiel – mit einfacher Rechnung. Man nannte es „Geben und Nehmen“ – und es hat grandios funktioniert. Heute gibt man dir künstliche Orientierung in einer Welt der unbegrenzten Möglichkeiten. Und nimmt dir gleichzeitig die Freiheit „nein“ zu sagen. There is no escape-room. Not at all. Aber Moment mal. Es ist doch immer noch ein Geben und Nehmen. Man gibt den Ton an. Oder man gibt dir die faire Chance auf ein faires Geschäft, auf den Big Deal deines Lebens. Und nimmt dir dein Geld. Red Friday. Aus schwarzen Zahlen werden rote Zahlen. Das ist besser. Zwar nicht für dich. Aber nur wenn er wirklich rollt, der Rubel, hilfst auch du, die Wirtschaft anzukurbeln.
Manchmal frage ich mich, was er uns kostet, dieser Wahnsinn. Nicht unbedingt das Leben. Aber Zeit, eine ganze Menge Zeit. Und auch ein Stückchen Optimismus. Ein Stückchen Vertrauen, Unabhängigkeit, Freiheit. Wir wären gerne. Aber wir sind es nicht mehr. Und das macht die Sache nicht einfacher. Da. Schon wieder. Sie haben 20 neue Angebote. Schlagen Sie zu. Es wird sich lohnen. Folgen Sie unseren zehn Geboten. Und bieten Sie mit. Überbieten Sie. Nein. Nicht etwa „Du sollst nicht“ – sondern „Du darfst“, „Du sollst“, „Du musst“, „Du brauchst“, „Du weißt doch“, „Du glaubst doch nicht etwa“, „Du wirst schon“, „Du siehst sehr wohl“, „Du wirst noch heute“ und „Du kaufst ganz sicher das ein, was wir dir sagen.“ Es ist verblüffend, wie heilig uns der Konsum geworden ist, ohne dass wir die Reißleine ziehen können. Wir bitten um Vergebung. Vergebens.
Ein Glück. Noch ein paar Stunden, dann ist er vorbei, der Spuk. Zumindest für dieses Jahr. Mein schlauer Rechner sagt mir dann zwar „Noch 363 Tage, 23 Stunden und 59 Minuten“ - dann ist es wieder so weit, gesetzt den Fall, 2020 ist kein Schaltjahr. Und so stellen wir uns vor, keiner würde merkeln, alle wären einen Tag zu früh und alle, wirklich alle würden kaufen. Am Day-before-the-Day. Kaufen, was das Zeug hält. Und erst am nächsten Tag gäbe es sie, die echten Angebote. Ein Segen für die Konjunktur, ein Drama für all die kleinen, hungrigen Helden dort draußen. Reingelegt. Getäuscht. Merkeln würden (es) wohl nur noch wenige. Merkwürdig wäre es aber schon:
Ein geschenkter Tag. Gibt es den tatsächlich? - Ja. Nächstes Jahr. Ich schlage indes schon einmal vor, den 29. Februar 2020 zum weltweiten „Anti-Konsum-Tag“ zu machen. Schließlich gibt es für alles und jeden einen besonderen Tag. Auch wenn mein Vater immer gesagt hat „Auf der Welt gibt es nichts geschenkt“ - dieser eine Tag wäre kostenlos. Noch mehr. Er wäre eine Chance, der größte Gewinn schlechthin. Ein echter, der einzig wahre Black Frei-Day. Aus die Rechner. Weg die Werbung. Fenster auf. Und nach draußen. Augen auf nach links, Augen auf nach rechts. Es lebe der „G R E E N S A T U R D A Y“. Und wir hätten endlich das, was wir uns zu Weihnachten am meisten wünschen und niemals kaufen können: Unsere Ruhe.
aus: Welche Farbe hat ein Tag ?
RUE – November 2019
LAST MAN READING
November 2019
Er war der letzte Mann, der lesen konnte. Rückwärts. Rückwärts hätte er sie gerne gedreht. Die Zeit. Nicht altmodisch. Nicht konservativ. Nicht immer nur auf der dunklen Seite des Lebens. Nein. Keine Sorge. Nicht alles war schlecht. Nicht damals. Nicht heute. Aber er hatte es kommen sehen. So wie alle vor ihm. So hatte es auch er kommen sehen.
Er war nicht nicht der erste letzte Mann, der lesen konnte. Die gab es schon vor ihm. Immer wieder. Und wieder. Wo soll das alles noch hinführen ? Hatte er sich gefragt. So, wie all die anderen vor ihm. Das ist der Schlussverkauf, der Niedergang unserer Kultur. Früher, was konnten die früher noch alles. Oder: Mann, waren die gut. Vor zwanzig Jahren hatte er das Gejammere dieser ewig Gestrigen nicht verstanden. Nie verstanden. Nein. In all seinem Optimismus, mit seinem ewigen Blick nach vorne nie verstehen wollen. Und dann diese alten Sprüche: Alles hat seine Zeit. Jede Generation hat ihre Stärken. Gewiss auch ihre Laster. Die Jugend macht das schon. Und überhaupt.
Von seinem Leben weiß ich nicht viel. Ich kannte ihn nicht wirklich gut. Aber wir, wir haben mit Zinnsoldaten gespielt. Inmitten der Friedensbewegung der Achtziger. Umgefallen sind sie. Peng. Peng. Peng. Einer nach dem anderen. Und wir waren die Sieger. Auf Friedhofswiesen haben wir gekickt. Bei Wind und Wetter. Bei Schnee und Sturm. Und wenn der Friedhofswärter kam, um uns des heiligen Feldes zu verjagen, haben wir ihm die Zunge rausgestreckt. Und wir waren die Sieger. An Bahnhöfen hingen wir ab. Woche für Woche. Mittag für Mittag. Und wir haben uns geärgert, wenn wieder und wieder und wieder nur eine Einheitslok vorbeifuhr. Wir haben gewettet, welche Lok nun als nächstes kommen würde. Und egal, welche es war. Wir hatten recht. Immer. Und wir waren die Sieger. Briefe haben wir geschrieben. Seitenlang. Wir waren verliebt. Und was wir uns nicht trauten, dem anderen ins Gesicht zu sagen, haben wir zu Papier gebracht. Das waren sie. Die echten Gefühle. Himmelhochjauchzend. Zu Tode betrübt. Und trotzdem: Wir waren die Sieger. Wir konnten lesen. Und diese Fähigkeit des Lesens und Verstehens öffnete uns jede Tür, jedes Tor nach draußen. Kleine warme Worte. In einer großen kalten Welt.
So war sie auch, diese erste Generation Mensch nach ihm. Da ging noch etwas. Das war sein Slogan. Heute kannst du das doch nicht mehr machen. Nein. Das ist zu viel verlangt. Es könnte weh tun. In seinem Herz ein Stich. In seiner Seele ein Riss. Und in seinem Hirn ? Das will keiner wissen. Die Zeit hat sich geändert. Ohne ihn. Er hat ihn verpasst, den Zug, auf den sie alle aufgesprungen sind, mit dem sie alle fahren. Von hier nach dort. Und von dort nach egal wo. Vorwärts. Rückwärts. Auf. Oder neben der Spur. Er hat ihn verloren. Verloren den Faden, den Faden der Zeit. Und wenn er heute in den Spiegel schaut und sich fragt, warum er so alt aussieht, findet er die Antwort in all den Tamagotchis oder Pokemon-Gos der letzten zwei Jahrzehnte. Das macht sie noch alle kaputt, hatte er schon vor zwanzig Jahren gewusst. Da standen sie auf den Schulhöfen. Sprachen nicht. Aber fütterten. Sie stopften die Tamagotchis mit all dem Fraß aus der Mathestunde, der ihnen selbst nicht bekam. Heulend saßen sie in ihren Klassenzimmern, wenn er gestorben war, der kleine Liebling, verhungert, obwohl er doch soviel von dieser virtuellen Liebe bekommen hatte. Ihm fiel ein Stein vom Herzen, als dieses Übel vorbei war. Haarscharf am Verblöden vorbei. Das war knapp. Doch was wie eine Erlösung schien, kam zwei Jahrzehnte später noch viel schlimmer. Da liefen sie durch die Fußgängerzonen, hüpften nach links und rechts, nach vorne und hinten und erwischten sie. Oder auch nicht. Völlig wirr. Völlig irre. Heute lachen wir darüber, weil wir sie längst vergessen haben, diese Zeit. Früher gab es eine Faustregel, die alle fünf Jahre eine neue Schülergeneration postulierte. Und eine neue Generation des digitalen Wahnsinns. Das hieß so viel wie: Alle fünf Jahre wird es schlimmer. Oder deutlicher gesagt: Alle fünf Jahre werden die Klassenarbeiten leichter und die Schnitte schlechter. Wir aber hatten einen Detektivclub, eine kleine Zeitungsredaktion, eine Quasselclique und wir knutschten, was das Zeug hielt. In Gedanken. Manchmal. Aber wir schrieben. Und lasen. Und schrieben. Und lasen.
Noch nie war Kommunikation so einfach wie heute. Und noch nie gelang sie so schlecht wie heute. Wir fehlten in der Schule. Und trotzdem kannten wir immer die Hausaufgaben. Gerda kam vorbei und brachte es, das heilige Blatt. Und hatten wir nicht gerade vierzig Fieber, war es am nächsten Tag ausgefüllt und eingeklebt. Wenn heute jemand fehlt, ist er verloren in einem Überangebot an digitalen Möglichkeiten. Was man nicht alles tun könnte: skypen, appen, twittern, liken, monetarisieren ... es könnte uns schlecht werden vor Möglichkeiten. Die traurige Wahrheit: Ich habe gefragt. Keiner hat mir zurück geschrieben. Keiner hat es gewusst. Keiner hat es je gelesen.
Schule hat in dieser Zeit nur eine einzige Aufgabe: Den Kindern lesen, schreiben und rechnen beizubringen. Bildungsauftrag. Und sie zu Menschen zu formen, deren Charakter in dieser Zeit besteht, zu Menschen, die respektvoll handeln und dennoch mutig genug sind, für die Wahrheit, genau genommen für ihre Wahrheit, zu kämpfen. Erziehungsauftrag. Eine eigentlich einfache Sache in einer komplexen Lernwirklichkeit. Der Weg zum Ziel ist weit, verzweigt, nie genau definiert und vor allem eins: fragwürdig. Immer. Bekanntlich führen viele Wege zum Ziel. Aber heute, viele Generationen später, wissen wir längst, dass es nicht alle sind.
So stieg ich vor ein paar Wochen in den Zug nach Mannheim. „Is this the train to Mannheim ?“ fragte mich die nette junge Frau. Danach fuhr ich nach Mainz: „Is this the train to Mainz ?“ wollte der nette junge Mann wissen. Klare Ziele. Mit klaren Wegen. Aber: Als ich dem nicht mehr ganz so jungen Kontrolleur mein Rheinland-Pfalz-Ticket zeigte, fragte dieser seinen Kollegen, ob ich damit überhaupt nach Worms oder Mainz fahren dürfe. Und als ich ab Mainz den Zug nach Köln nahm, kam ein weiteres Mal die Frage „Cologne ?“ – „Cologne again!“. Nun ist es mühsam zu diskutieren, ob der Fehler am System liegt. Damals hatten wir keine digitale Zugzielanzeige. Aber wir wussten, dass Mainz nördlich von Mannheim liegt und die Sonne mittags im Süden steht. Damit war der Käse gegessen. Wir folgten nicht blind einem Navigationssystem. Wir schalteten den Kopf ein. Und dachten nach. Nicht immer erfolgreich. Aber manchmal doch.
Vergangenen Samstag die gleiche Geschichte: Ich saß im Zug von Stuttgart nach Heidelberg und Pforzheim. Zweigeteilt. Der vordere Teil nach Pforzheim, der hintere, mit mir, nach Heidelberg. An der Stirnseite in großen, gelben Buchstaben „H E I D E L B E R G“. Im Zug in großen gelben Buchstaben „H E I D E L B E R G“. Nun begann sie, diese Diskussion, drei Stuhlreihen hinter uns. „Das ist der Zug nach Pforzheim”, behauptete er. “Nein, nein. Der fährt sicher nach Heidelberg“, meinten die anderen. Klare Ziele. Mit klaren Wegen. Und unendlicher Konfusion. Man fand kein Ende, man fand keine Lösung und auch keinen Weg, um aus der Misere zu kommen. Als der Zug am Ende in Heidelberg eintraf und ich meines Weges ging, hörte ich, wie er zu den anderen sagte: „Seht ihr, ich hatte recht. Dort auf dem Schild steht groß und deutlich P F O R Z H E I M.“
Er war der letzte Mann, der lesen konnte. Rückwärts. Oder vorwärts. Egal wie. Nur wer lesen kann, kann die Welt zu seiner eigenen machen. „Ein Glück, dass ich in der Schule aufgepasst habe. Sonst wären wir jetzt tatsächlich in Heidelberg angekommen.“ Seine Mitreisenden lächelten erleichtert und bedankten sich für die Mühe, die er für sie auf sich genommen hatte. Ich indes schüttelte den Kopf. Da war sie. Wohl schon wieder. Eine neue Generation. Und ich mitten in ihr. Der nächste, der nächste Letzte, der lesen konnte.
aus
rue – besser aufgepasst ist auch nur halb gewusst
November 2019
DIE LOCHPARABEL
Oktober 2019
Als der Schüler eines Tages seinen Mathematiklehrer danach fragte, ob er ihm die Lochparabel erklären könne, entgegnete ihm dieser:
Das ist nicht ganz einfach. Ich freue mich darüber, dass du dich für solche Dinge interessierst, aber Löcher, mein Lieber, Löcher gibt es ganz verschiedene. Und so verschieden, wie diese Löcher sind, so verschieden sind auch die Gleichungen, mit denen du sie beschreiben kannst.
Eine Straße kann Löcher haben. Ihre Form ist eine ganz andere, wie die der Löcher, die du mit einem Locher aus einem Blatt Papier stanzt. Jene sind meist weiß und kreisförmig, während schwarze Löcher auf Asphalt eben eher schwarz und meistens hohl und schlagartig (schlag-) fertig sind. Sie alle haben keine Punkte gemeinsam, keine Schnittstellen und zum Beispiel auch keine Öffnungen, an denen sich jemand stören könnte und in die tatsächlich jemand fallen und sich verletzten könnte.
Es gibt Menschen, die den Mund so weit aufreißen, dass in ihrem Gesicht außer den zwei Nasenlöchern noch ein weiteres, großes Loch entsteht. Dieses Loch kann, wie das Loch in deinen Zähnen selbst, das Kranke, um im Bild zu bleiben, die Karies zum Vorschein bringen. Es kann also die Sprache des Volkes sprechen, schmerzen, unbequem sein, auf Mißstände hinweisen, Position beziehen, verletzen, anklagen, gar beleidigen. Umgekehrt aber kann es auch heilen, loben, offen-herzig sein und gar den Anschein eines „Alles-wird-gut-Lächelns“ erwecken. Bleibe ruhig und gelassen. Warte ab. Und streiche Balsam auf deine längst durchbohrte Seele. Ja - andere wiederum bohren. Täglich. Jede Stunde volle fünfundvierzig Minuten lang. Hartnäckig. Noch hartnäckiger. Sie bohren Löcher vor dir, hinter dir, neben dir, über dir, unter dir. Sie bohren Löcher in ein Brett, in die Decke, in die Wand, manchmal gefühlt gar in den Bauch.
Nun stellt sich die Frage, wie du mit all diesen verschiedenen Löchern umgehst. Manchmal wirken sie größer als sie sind. Viel Loch um Nichts. Manchmal ist es auch umgekehrt. Da ist ein Elefant nur ein winziges Loch. Bildlich gesprochen. Eindeutig beschreiben lassen sie sich nicht, diese Löcher. Aber du kannst sie in Kategorien einordnen: Nötige und unnötige Löcher, sichtbare und unsichtbare Löcher, gewollte und ungewollte Löcher, erkannte und unerkannte Löcher und so weiter. Das ist in etwa so, wie wenn du positive und negative Vorzeichen vor diese Löcher setzt. Die Positiven siehst du scheinbar, aber es gibt sie nicht wirklich. Von den negativen weiß keiner etwas, aber sie sind da. Einfach so.
Ich möchte dir an dieser Stelle ein Beispiel erzählen, mein Freund: In einem Gebäude hatte man einst vergessen, in die Toilettentüren Schließzylinder einzubauen. Löcher. Nichts als Löcher in den Türen. Das schien anfangs völlig normal. Keiner kümmerte sich darum, keinen störte es. Als nach vielen Tagen ein weiser Mann endlich danach fragte, warum es in den Türen nur immer wieder Löcher statt Schließzylindern gäbe, wusste keiner eine Antwort. Keinem waren die Löcher aufgefallen, keiner hatte sie je gesehen, aber sie waren trotzdem da. Da jedoch keiner die Löcher wahrhaben wollte, gab es sie nicht wirklich. Natürlich gab es in diesem Gebäude auch keinen, der jemals daran dachte, diese Toilette zu benutzen. Auf die Toilette geht man nicht. Man besetzt sie nicht. Man braucht sie nicht. Nicht mit. Und auch nicht ohne. Wasser. Alle zuckten mit den Schultern, wunderten sich, und fragten nach einer Gleichung, mit der sie dieses Problem umschreiben und im besten Fall gar lösen konnten. Als sie sich mehrere Tage lang den Kopf zerbrochen und womöglich gar eine Lösung gefunden hatten, gingen sie zu den besagten Türen. Dort angekommen, trauten sie ihren Augen nicht. Die Löcher waren tatsächlich verschwunden, die Schließzylinder offenbar längst eingebaut und am Ende wussten sie nicht mehr wirklich, ob die Löcher tatsächlich jemals existiert hatten.
Nicht immer lohnt sich die Mühe, über Löcher, welcher Art auch immer nachzudenken. Nicht immer findet sich eine Beschreibung eines jeden Problems, die Lösung einer jeden Frage oder gar ein Loch, durch das man wirklich blicken kann, in der Annahme es gäbe ein Dahinter, ein Darin, ein Darum. Nicht alles auf der Welt ist erklärbar, und auch nicht immer liefert dir die Mathematik ein passendes Konstrukt, mit dem sich Menschen, Sachverhalte oder Löcher in Schemen pressen lassen.
Wenn du nun nach draußen gehst, mein Junge, dann halte deine Augen offen. Suche sie, diese Löcher. Finde sie, diese Löcher und gehe offen auf sie zu und mit ihnen um, denn Löcher sind nunmal (nur) Löcher, mein Lieber. Nicht mehr. Und nicht weniger. Entscheide gezielt, ob und wann es sich lohnt, wahre Worte über sie zu verschwenden oder aber in stillem Schweigen zu verharren. Nicht jedes Loch will gestopft werden, nicht jeder Mensch möchte Löcher stopfen und schon gar nicht jedes Loch, auf das du triffst, kann ausgerechnet von dir gestopft werden. Es gibt Löcher wie Sand am Meer, Löcher von A bis Z, untene, obene, linke oder rechte, schöne oder unschöne. Wie auch immer es aussieht, wie oder was auch immer es ist: Ein Loch ist und bleibt ein Loch. Manchmal.
aus:
RUE - Ein Leben voller Löcher
Oktober 2019
I MADE MY DAY
September 2019
Manchmal gibt es Tage, die sind einfach perfekt. Das merkst du schon morgens beim Aufstehen. Und kurz danach. Auf dem Weg zur Arbeit. Freundliche Gesichter, kleine Zwerge und in der Ecke eine traurige, ausrangierte Kreidetafel.
Hey, Alte, hab ich ihr zugerufen, zieh nicht so ein Gesicht, fünfzig Jahre, das ist doch genug für dich. Wir brauchen dich nicht mehr. Nie mehr. Kein Absender, kein Verwendungszweck, auch kein Verfallsdatum. Und trotzdem. Weg damit. Einfach weg. Weit weg. Geschmiert wäre geölt. Und geölt wäre geschmiert. Da wäre schon noch etwas gegangen. Dieses Mal. Die Zunge hat sie mir rausgestreckt. Ausgelacht hat sie mich. Du wirst schon sehen, was du ohne mich machst. Nichts machst du ohne mich. Nichts. Absolut nichts.
Da hat sie sich aber mal getäuscht, die Alte. Klar, was könnte nicht alles passieren an solch einem sonnigen Tag. Der neuen digitalen Tafel könnte es die Sprache verschlagen. Sie könnte sogar Dateien fressen, sich den Magen verderben, Daten vernichten, Papierkörbe füllen. Das wäre dann offensichtlichst ein ... Schutzmechanismus? Wie genial. Schutz vor den anderen, Schutz vor der Welt, vor mir, vor sich selbst. Puh, ein Glück, dass es das aber nicht gibt. Wir hätten ja den Spott. Die Tafel schon wieder Tränen in den Augen und mein Kater würde sich totlachen.
Du kommst nach Hause, öffnest den Briefkasten und findest einen Berg mit Briefen. Was da alles hätte dabei sein können. Zum Beispiel einer von der Gemeinde, das Grab sei ungepflegt, der Mangel bis nächste Woche zu beseitigen und dankenswerterweise gäbe es sogar ein Antwortschreiben, mit dem du anzeigen könntest, dass der Mangel behoben sei. Puh, ein Glück, dass es das nicht gibt. Wir hätten den Spott. Der Friedhofswärter wahrscheinlich wieder Tränen in den Augen und mein Kater würde sich totlachen.
Du hängst dich ans Telefon, telefonierst mit dem Landesmedienzentrum und du könntest auf eine nette Stimme treffen, die dir deinen Login wieder frei schaltet. Du könntest aber auch merken, dass du trotz Login gar keinen Zugriff auf deine Daten hättest. Und du würdest dann merken, dass das Gespräch und die ganze Aktion für die Katz war. Ja, für die Katz. Nicht gegen etwas. Nicht immer dagegen. Bitte nicht. Flucht nach vorn. Puh, ein Glück, dass es das nicht gibt. Wir hätten den Spott. Die Dame am Telefon wahrscheinlich wieder Tränen in den Augen und mein Kater würde sich totlachen.
Die andere Leitung wartet und wartet. Und wartet. Eine halbe Stunde. Dann könnte jemand abnehmen. Bei der Versicherung. Und gar nicht wissen, was du von ihm willst, dem jemand. Oder du riefst ein Hotel an und möchtest eine Klassenfahrt buchen und die Dame am Telefon wüsste gar nicht, dass es Klassenprpgramme in ihrem Haus gibt. Du würdest eine Tür öffnen wollen, der Chip aber nicht. Du nähmst ein Paket der Medienzentrale und stelltest fest, dass die bestellten Karten gar nicht vollständig wären. All das könnte dir passieren. Ja, das kann ja sein. Schreiben Sie eine Reklamation, würde man sagen. Reklamieren Sie, dass man Ihnen kostenlos bestellte Ware nicht zugeschickt hat. Das würde Sie dann nur etwas Zeit und Porto kosten. Also wenn Sie die Ware wirklich möchten, dann wäre Ihnen die Ware das doch aber bitte wert. Pakete könnten gar verloren gegangen sein. Weg. Einfach weg. Aber Dehaell könnte behaupten, du hättest das Paket bekommen. Klar, du hättest ja auch die Empfangsbestätigung unterschrieben. Du. Höchst persönlich. Und wir hätten den Spott. Der Mann im Lieferwagen wahrscheinlich wieder Tränen in den Augen und mein Kater würde sich totlachen.
Du könntest plötzlich all deine T-Shirts suchen. Weg. Sie wären einfach weg, der Schrank leer, die Kasse leer, die Fahne weg und irgendwann später, würdest du den ganzen Kram wieder finden. Was würdest du tun ? Klar, du würdest die Shirts wieder zusammenlegen. Nach der Größe ordnen. Nach der Farbe. Ordnung muss sein. Einhundert Stück. Da hättest du eine Weile zu tun. Da wärst du weg. Auch du. Weg. Da, nein da würdest du nie wieder auf die Idee kommen, dass hier irgend etwas nicht stimmen könnte. Puh, ein Glück, dass es das nicht gibt. Wir hätten den Spott. Die Dame im Gebrauchtwarenladen wahrscheinlich wieder Tränen in den Augen und mein Kater, der würde sich längst totlachen.
In der Bäckerei hätte das Laugenbrötchen 13% aufgeschlagen, über Nacht, die süßen Teilchen ebenfalls fast zehn Prozent und die Verkäuferin würde noch immer nicht mehr verdienen. Deine Schwägerin könnte dich anrufen und dir sagen, dass sie einen Platten hätte und insgesamt sowieso Stau wäre. Ob du mal eben ? - Ja, Stau. Manchmal stauen sich die Ereignisse. Sie überschlagen sich nicht, aber es geht einfach nicht voran. Upps, da ist sogar das Wetter weg. Wir haben das Wetter für Sie verloren, dein Lieblingsclub gerade auch gegen Freiburg und der Akku deines Handys ist auch fast leer. Gut so, was nützt dir auch eine App für den grellsten Sternenhimmel, wenn der Himmel nur Wolken sieht. Puh, ein Glück, dass es das nicht gibt. Wir hätten den Spott. Die Sterne am Himmel wahrscheinlich wieder Tränen vor Augen und mein Kater würde sich totlachen.
Die Züge würden nicht mehr fahren. Es gäbe keine Doppelstockverbindung mehr nach Stuttgart. Nur die kleinen flotten Flotten würden pendeln. Gelb. weiß. Be. Wegt. B-wegt. Unentwegt. Die Unterführung würde gesperrt und du könntest auch gar nicht mehr mit dem Auto von Ah nach Be oder Sand oder Lee. Das wäre fast, als würde man eine Mauer bauen. Nur umgekehrt. Quasi. Hohl. Nein, keinesfalls, das wäre nur komisch - oder seltsam. Hohl. Holen würde er dich, dieser Wahnsinn.
Manchmal gibt es Tage, die sind einfach perfekt. Das merkst du schon morgens beim Aufstehen. Und kurz danach. Auf dem Weg zur Arbeit. Freundliche Gesichter, kleine Zwerge und in der Ecke eine traurige, ausrangierte Kreidetafel. Nein, meine Lieben. Habt keine Sorge. So etwas könnte einem an einem einzigen Tag wirklich nicht passieren. Vielleicht nicht an einem Tag, aber an zwei oder drei, vielleicht auch an vier – wer weiß ... Durchatmen. Entspannen. Und gelassen bleiben. Ein Glück, dass es das nicht gibt. Wir hätten den Spott. Die alte Tafel in der Ecke wahrscheinlich noch immer Tränen in den Augen und mein Kater würde vor Elend endlich anfangen, nach den Mäusen in der Garage zu suchen.
Facebook, mein alter Freund, du wolltest wissen, was ich gerade mache. Klar, absolut klar, ohne Punkt, ohne Komma und ohne weitere Fragen oder sinnlose Kommentare: This time, I made my day !!!
aus:
RUE – Nichts ist so, wie es scheint ...
September 2019
DIE MACHT DER BÄUME
September 2019
Wir denken, wir wären wichtig. Wir bauen und zerstören. Wir schenken Leben und nehmen es. Uns. Den anderen. Auch den Bäumen. Die Macht der Bäume aber ist eine größere.
Fortschritt kostet. Globalisierung kostet. Menschen strömen nach draußen. Auf die Straßen. Und rufen den Freitag als Rettung für die Zukunft aus. Endlich. Endlich ? - Nein, wir haben längst den Punkt überschritten, an dem es gereicht hätte. Holz als nachwachsender Rohstoff. Welch eine geniale Vermarktungsstrategie. Kauft Pellets, stellt euch die Heizung der Zukunft in euren Keller. Die räumen doch den Wald auf. Das Holz dafür muss gar nicht gefällt werden. Es liegt vor unserer Nase. Und stinkt. Gewaltig. Wir fällen keinen Baum, wir nehmen nicht. Wir regeln. Oder tun zumindest so. So, als könnten wir, als hätten wir, als würden wir, als wären wir die, denen es zusteht, die Macht der Bäume zu ergreifen, Umwelt gegen natürliche Prozesse zu gestalten, Klima zu steuern und gar den Planeten zu retten. Einfach so. So einfach ? Nein. So einfach geht das nicht.
Wir denken, wir wären wichtig. Wir bauen und zerstören. Wir schenken Leben und nehmen es. Uns. Den anderen. Auch den Bäumen. Die Macht der Bäume aber ist eine größere.
Die Energiewende ist ein schwieriges Thema. Aber ich möchte und kann noch immer nicht verstehen, warum es in der Öffentlichkeit scheinbar nur um den Ausstieg, den Umstieg, den Neueinstieg und Alternativen geht. Warum wir nicht alle Hebel in Bewegung setzen, mit sehr viel Vorsicht aber auch Mut unser tägliches Handeln zu hinterfragen. Ein Smartphone ersetzt eine Brieftaube. Es braucht Strom. Ein moderner Bildschirm flimmert im Klassenzimmer. Er braucht Strom. Wo früher ein Vorhang war, fahren Jalousien nach oben und unten, stundenlang, wie es ihnen gefällt – sie brauchen Strom. Mitten am Tag brennt jetzt auf Gängen Licht. Bewegungsmelder. Sie brauchen Strom. Wir haben in der Küche mehr Küchengeräte stehen, als dort Lebensmittel liegen. Strom. Wir nutzen E-Scooter statt Muskelkraft – Strom. Und im Gegensatz zu früher, als mir manch ein Neider aus Mitleid und Solidarität in den großen Ferien eine Kerze angezündet hat, brennt in dieser Zeit nun eine Taschenlampe. Strom.
Wir denken, wir wären wichtig. Wir bauen und zerstören. Wir schenken Leben und nehmen es. Uns. Den anderen. Auch den Bäumen. Die Macht der Bäume aber ist eine größere.
Ein Fahrplan an Bushaltestellen wird ersetzt durch Anzeigetafeln. Strom. Modernste Ampelanlagen an jeder Kreuzung minimieren das Chaos auf längst verstopften Straßen. Strom. Die Anzeigetafel im Bus selbst ersetzt das Klappschild, auf dem früher wahlweise Heidelberg oder St.Leon stand. Strom. Im Supermarkt, in der Bahnhofshalle, im Fußballstadion flimmern Werbewände, in einer Anzahl und Dichte, die selbst das schärfste Auge nicht mehr ordnen kann. Strom. Und wir stecken künftig sogar den kleinen Finger in die Steckdose und ziehen Energie. Load me up. Strom.
Für mich war es ein „Saturday for future“. Schule schwänzen möchte ich nicht, es reicht, wenn andere das tun. Ich ging nicht in die Stadt, zog mir kein Schild um oder spielte auf der Tröte. Mein Protest war ein leiser. Protest. Zugleich aber auch Ehrfurcht und Respekt vor dieser anderen Dimension, vor ihnen, diesen Bäumen. Ich ging alleine durch diesen Wald, der möglicherweise in wenigen Monaten nicht mehr sein wird, weil genau dort zehn Windräder stehen könnten, die all den unnötigen, oben geschilderten für mich abstrusen Lebenswandel, Fortschritt genannt, kaufmännisch kalkuliert kostendeckend gegenfinanzieren, eine ökologische Marktwirtschaft stützen und parallel das Weltklima retten sollen ? Wohl kaum.
Wir denken, wir wären wichtig. Wir bauen und zerstören. Wir schenken Leben und nehmen es. Uns. Den anderen. Auch den Bäumen. Die Macht der Bäume aber ist eine größere.
Zwischendurch wehte ein leiser Wind. Die Blätter rauschten und im Gestrüpp landete ein Vogel. Nein das war es nicht. Die Dimension ist definitiv eine größere. Eine weitaus größere. Wir Menschen denken, es wäre der Wind, der das Blattwerk bewegt. Aber nein. Sie sind es selbst. Diese Bäume. Sie schütteln den Kopf. Sie warnen uns. Sie sagen „nein“ zu dem, was wir tun. Die gleiche Sprache sprechen wir nicht. Wir verstehen nicht. Nicht sie, nicht ihre Welt, auch nicht mehr uns selbst. Ihre Blätter rauschen nicht, sie sprechen mit uns. Doch wir sind zu taub, zu taub um zu hören, welche Geschichten sie uns erzählen, welche Botschaft sie uns mit auf den Weg geben. Der Vogel indes hatte einen Zettel im Schnabel. Ein Zettel mit ein paar Sätzen, die ich euch nicht vorenthalten möchte:
Ihr denkt, ihr wärt wichtig. Ihr baut und zerstört. Ihr schenkt Leben und nehmt es. Uns. Den anderen. Auch den Bäumen. Die Macht der Bäume aber ist eine größere. Sie sehen was ihr tut. Noch schauen sie euch zu. Noch.
RUE
September 2019
NEUNZIG PROZENT
September 2019
Nicht schlecht. So saß ich denn am Fenster im sechsten Stock dieses Hotels und ließ die Züge fahren. Eigentlich ein alberner Gedanke zu glauben, dass es auch ohne mich geht. Zugegeben, es war nicht immer ganz leicht, den Verkehr auf fünfzehn Gleisen zu koordinieren. Ein roter Zug von rechts, ein roter Zug von links. Noch einer von dort, einer von oben, von unten, kreuz, quer, hin, her, ein Doppelstock auf Gleis eins, drei S-Bahnen hintereinander – rot. Fast alle rot. Neun von zehn Zügen rot. Wir machten uns früher einen Spaß daraus, darüber zu lästern, dass es die Bahn nicht hin bekommt, farblich einheitliche Züge fahren zu lassen. Heute würden wir uns freuen, wäre dem nicht immer so. Etwas mehr Farbe. Das sähe schon gut aus ... Ich weiß übrigens nicht, wer diese Züge gesteuert hat, als ich nachts geschlafen habe oder tagsüber unterwegs war. Aber der Gedanke, stundenlang Herr über all diese Züge gewesen zu sein und sie aus zwanzig Metern Höhe in die richtige Richtung zu schicken, das hatte schon etwas.
In der Unterführung unseres S-Bahnhofs spielte er Akkordeon. Wahrscheinlich ist er auch mit einem dieser kleinen Züge gekommen, mit denen sie alle kamen. „Papa, der spielt doch immer das gleiche Lied“ – Stimmt, aber die Menschen, die ihm zuhören, sind nicht immer die gleichen, zumindest zu neunzig Prozent nicht. Dass wir mehrmals am Tag an ihm vorbei kamen, das konnte er schließlich nicht wissen. Aber ein paar Cent hatte er sich schon verdient. So fuhren wir denn jeden Abend um kurz nach acht mit der S3 stadtauswärts, stiegen beim fünften Halt aus, hörten ihn, grüßten ihn, und wunderten uns am letzten Tag, dass dieses Mal der Obst- und Gemüsestand direkt an der Ecke schon geschlossen hatte. An keinem der Tage davor war uns nach Banane, Apfel oder Brombeeren für 3,99 Euro die 250-Gramm-Schale. Heute hatte sich die Frage danach gar nicht gestellt. Stolze Preise hier, in dieser Stadt. Eine Bratwurst mit Semmel – 3,95 Euro. Eine Kugel Eis 1,70 Euro, aber ein Hotelzimmer mit vier quietschenden Betten und Aussicht für nicht einmal 50 Euro die Nacht mit Frühstück – das waren schon Welten.
Neun von zehn Zügen fuhren pünktlich. Ich gab mir Mühe und hatte die Sache gut im Griff. Erstaunlich, wie aufgeräumt sauber all diese kleinen unterirdischen Bahnhöfe wirkten. Neunzig Prozent gar mit Toilette. Das hast du nicht in jeder Großstadt. „So ein Mist, ich habs verpennt!“ – „Was haben Sie verpennt ?“ – „Ich hätte aussteigen müssen. Naja, selbst schuld, ich hätte ja nicht mit diesem Smartphone ...“ – „Manchmal führen sie sogar Selbstgespräche mit diesen Dingern. Neun von zehn Leuten sitzen in der U-Bahn, haben ihre Ohren zugestöpselt und nehmen nichts von dem wahr, was um sie herum geschieht ...“ – „Hey, wir haben gerade miteinander gesprochen. Früher, da haben wir das öfter gemacht, miteinander gesprochen. Gar nicht schlecht. Es war nett. Ich steige hier aus, passt auf euch auf! Servus ...“ – Ich fragte mich, warum große Städte manchmal anonyme Städte sind. Und fuhr weiter.
Ein Sonntag im Englischen Garten. Hier pulsiert das Leben. Auch unter der Woche. Nein, ich hätte nie gedacht, dass bereits nachmittags um vier neun von zehn Frischverliebten mit der Bierflasche in der Hand durch den Park laufen und sich ewige Treue schwören. Ja, klar, es ist nur ein Feierabendbier. Aber um diese Zeit. In diese Mengen. Feierabend? Feier-abend! Gleich nebenan die Universität. Hier studierte Josef, Kardinal Ratzinger. Ob er damals auch mit einer Bierflasche ... ? – Unvorstellbar. Ich stieg in die U-Bahn und fuhr nur fünf Minuten weiter. Karlsplatz. Stachus. Legendär. Damals. Und heute ? – Ich habe mir den Spaß gemacht, die Menschen zu zählen, sie zu ordnen. Rechts der Hugendubel. Offene Türen. Leere Türen. Links daneben Mc. Donalds. Welch ein Geschäft. Neun von zehn, die dort standen, waren Afrikaner. Oder Asiaten. Aber keine Deutschen. Keine Bayern. Keine Lederhosen. Kein Dirndl. Nichts. Der Typ, der immer um den Springbrunnen läuft und leere Flaschen sammelt, er würde wohl besser zum englischen Garten gehen ... Ich bin erstaunt, wie gegensätzlich die Welten sind in einer Welt, die ich für mich irgendwie anders in Erinnerung hatte. Aber es half nichts. Während sie im Englischen Garten, am Chinesischen Turm, ebenfalls zu über 90% ein Bier tranken und dazu Haxen aßen, gab es am Karlsplatz immerhin die freie Auswahl. Nicht nur Menschen jeder Herkunft, nein, das bunteste Fast Food aller Nationen, das man sich vorstellen konnte ...
In den Filmstudios dann erneut ein Zurück in die Zukunft. Ich muss es wohl akzeptieren, dass Führungen heutzutage interaktiv sind. Und interaktiv ist ein weiter Begriff. Um zu verstehen, was ein Greenscreen ist, musst du dir auch ohne Smartphone eine App herunterladen, die nicht funktioniert. Die junge hübsche Guide, die uns durch die Filmstadt führte, war stets online. So verpasste sie nichts. Egal, wohin wir gingen – sie schaffte es tatsächlich, sich um die Führung und ihre Whats-App-Nachrichten gleichzeitig zu kümmern und merkte überhaupt nicht, dass sie an jeder Mitmachstation immer das gleiche, völlig verpeilte kleine Mädchen auswählte, eine absolute Garantie, dass der zu produzierende Film nicht gelingen konnte. War der Film dann erst einmal gedreht, musste man ihn käuflich erwerben, um ihn zu sehen. Marketing im 21. Jahrhundert. Ja, was waren die alle flott, jung und dynamisch. Was hatten die gute Laune. Aber neun von zehn hatten sich scheinbar nie wirklich die Frage gestellt, warum die Menschen zu ihnen ins Filmstudio kommen. „Es tut uns leid, dass wir Ihre Erwartungen nicht erfüllen konnten!“ – So kommentiert man sinngemäß beispielsweise fast jeden Eintrag auf Trip Advisor. Selbstkritik hilft. Manchmal. Neunzig Euro, fünf Stunden ergebnislose Suche nach dem Wesentlichen, nach „Wie werden eigentlich Filme gemacht ?“ – Ich weiß es nicht. Wie wohltuend dann der Kontrast nur eine Stunde später in einem alten, völlig verstaubten Planetarium zwischen noch älteren, noch verstaubteren Männern. Mindestens so alt wie die Sonne und Erde zusammen müssen sie gewesen sein. Aber Überzeugungstäter. Kinder, welch eine Begeisterung beim Erzählen – zwei Stunden für zehn Euro. Neunzig Prozent Geld für zehn Prozent Ertrag. Oder besser umgekehrt. Fast unglaublich.
Dann setzte ich mich wieder ans Fenster im sechsten Stock, schob den Regler nach rechts und ließ die Züge fahren. Klar. Ich habe es in meiner Hand, wohin die Reise geht. Meine. Und auch die der anderen. Immer. Sie merken es nicht. Gesteuert, gelassen gelenkt. Aber ich weiß genau, wohin sie fährt, diese Bahn. Und die nächste. Jede einzelne von ihnen. Die Menschen in den Zügen sind nur wenige, wenige von weit über einer Million. Manchmal winkt mir einer zu. Hey, möchte er mir sagen, hey, du machst einen guten Job dort oben. Denk dran: Großstadtleben will gelernt sein. Und eigentlich, eigentlich könnten auch die restlichen neunzig Prozent Menschen in dieser Stadt charmant sein ... Da bleibt noch einiges zu tun. Das Signal ist grün. Es geht wieder los.
aus:
RUE – München
August 2019
DOWNLOADMÄNNER
Juli 2019
Eigentlich bin ich ja eher ein haptischer Typ. „Ich wette, dass ich am Geruch eines Klassenzimmers erkennen kann, welche Klasse zu diesem Raum gehört.“ - Das war sie immer gewesen, meine Wettidee. Jahrelang. Nun gibt es längst kein „Wetten dass?“ mehr im Fernsehen und der Geruch der neuen Fensterrahmen übertüncht jeglichen Charme, jeglichen Mief, jeglichen eigenen Charakter, der dieses eine Zimmer so einzigartig gemacht hat. Gleichförmigkeit. Gleichgültigkeit. Austauschbarkeit.
Vielleicht wäre es an der Zeit, wieder mehr zu riechen. Auf die eigene Nase zu achten. Sie nach oben zu strecken und zu rufen: „Vorsicht, hier stinkt etwas!“. Natürlich hätte es diese Wette nie geben können. Wie auch hätte man den Geruch eines Klassenzimmers in ein Fernsehstudio übertragen wollen ? Unserer Wahrnehmung, unserer Sinnlichkeit sind Grenzen gesetzt. Animalism? Sinnlichkeit. Neue Sinnlichkeit. Wissen wir überhaupt, auf welche unserer Sinne wir vertrauen können, was der kleine Unterschied zwischen Sinn und Unsinn ist und denken wir überhaupt noch darüber nach, was Sinn macht und was nicht ? Was sinnschaffend ist und was nicht ? Und mit welchen Sinnen wir in einer mehr und mehr digitalisierten Welt überhaupt noch zielgerichtet durch das Universum steuern?
Sprache – Reden - Hören: Gewiss war verbale Kommunikation schon immer einfacher als non-verbale Kommunikation. Worte sind klar, zumindest wenn sie klar gesprochen sind und so gehört werden, wie sie gehört werden sollen. Ob uns nun etwas Baustellenlärm, 70dB Tinnitus rechts und links im mittleren Frequenzbereich oder Flüssigkeitsmangel bei 40 Grad im Schatten etwas mehr oder weniger hören lassen, spielt dabei keine Rolle. Nicht alles kann man hören, will man hören – und vielleicht ist das manchmal gut so. Selektive Wahrnehmung ist eine Kunst. Einfach Lächeln auch. Zumindest ist es einfacher so zu tun, als hört man nicht, und zu lachen, als immer wieder fassungslos nachzufragen und zu erkennen, dass man wohl doch richtig gehört haben muss.
Sehen – manchmal sagen Blicke mehr als Worte: Wir führen ein überaus reizvolles Leben. Und wir haben gelernt, Reize zu filtern. Ich zeige dir, du wirst schon sehen. Du wirst es sehen müssen. Wenn ... du deine Augen schließt, sehen die anderen, dass ... du deine Augen schließt. Warum ist man manchmal eigentlich „gereizt“ – oder gar „über-reizt“? Richtig. Es gelingt nicht mehr Reize zu filtern, sie zu verarbeiten, zu ordnen, sie zu bewerten und sie in richtige Handlungsstränge zu lenken.
Die Welt der digitalen Medien erlaubt uns, derartige Reize zu senden und zu empfangen, und zwar so viele, wie wir möchten. Wir entscheiden selbst, was wir senden. Wir entscheiden selbst, was wir empfangen – naja, mehr oder weniger zumindest. Das war es dann auch. Es gab mal eine Zeit, da hast du zur Installation deiner neuen Stundenplansoftware eine CD erhalten. Die war greifbar. Die hattest du. Und du wusstest genau, dass auf dieser CD dein Programm gespeichert war. Klar, der Rohling konnte defekt sein oder dein Rechner konnte das Teil nicht lesen. Aber irgendwie hattest du das Gefühl, etwas in der Hand zu haben, mit dem du etwas erwirken oder noch besser bewirken konntest. Heute gibt es im weltweiten Netz Downloadmänner. Die schicken dir einen Serienbrief, einen Code und laden dich ein, ein Programm zu installieren, falls es verfügbar ist, du eine stehende Internetleitung hast, den Code kennst, einen Administratorzugang hast und das, obwohl du genau weißt, dass ein Uüdate am nächsten Tag die Wahrheit der vergangenen Stunde bereits überholen wird. Ob diese Downloadmänner wirklich leben, ist indes egal. Social Bots. Und du irgendwo dazwischen.
Das Gefühl, etwas in der Hand zu haben. Es ist uns abhanden gekommen. Der Geruch eines Klassenzimmers. Wir nehmen ihn nicht mehr wahr. Und über guten Geschmack lässt sich bekanntermaßen sowieso streiten. Immer. Ist es nicht erstaunlich, dass riechen, schmecken oder tasten dem, was uns im Alltag beschäftigt, immer mehr untergeordnet ist ? Bingo. Das neue Programm lädst du up oder down. Du siehst, was es macht, du hörst ein Warnsignal – aber schmeckt es wirklich ? Riecht es gut ? Und wie fühlt es sich an ? Entscheiden kannst du nur, wenn du mit allen Sinnen lebst ...
Digitalisierung bietet Chancen. Unbestritten. Es flimmert so gut wie nie zuvor. Das Leben ist Musik. Für jeden – und für jeden möglich. Aber wo ist die Grenze des guten Geschmacks ? Ist das, was wir als Fortschritt bezeichnen, wirklich leicht verdauliche, gut riechende, wohlschmeckende Kost oder ist da doch ein übler Beigeschmack ? Nun könnte man sagen: Ja, ihr Lehrer, ja, ihr Erwachsenen, es ist an euch, Lernfelder zu schaffen, Grenzen aufzuzeigen, Kritikfähigkeit zu wecken. Stimmt. Mit einem kleinen Fragezeichen: Wir selbst haben riechen und schmecken gelernt. Wir wissen, was sich gut anfühlt. Wenn ich meinen Schülern sage „Lasst uns das Fenster öffnen, es riecht streng, brennt in den Augen und rührt mich zu Tränen“, dann folgt hin und wieder ein „Echt ?“. Wenn ich davon rede, in grünen Gummibärchen Spinat zu schmecken, dann gibt es ein „Wirklich ?“ und wenn ich zwei Streithähne auf dem Gang trenne, die sich wütend in den Haaren haben, dann „ist das nur Spaß, dann ist das mein Freund, bei dem darf ich das!“.
Soziales Miteinander geht nicht per Download. Die Grenze des guten Geschmacks auch nicht. Und Anstand und Respekt schon gar nicht. Hier gibt es keine App für wahre Gefühle, kein Update der Höflichkeit, keine Brise Hochsommer aus HDMI-Steckern. Hier gibt es Daten. Austauschbare Daten, die schneller vergessen sind als der Geruch nach Turnschuhen, verschwitzen T-Shirts oder vergammelten Bananenschalen in einem Schließfach.
Es wird uns leicht gemacht. Aber leicht macht man mit uns das, was man möchte, nicht das, was wir wollen. Doch keine Sorge. Es gibt sie noch, die Downloadmänner. Echte Downloadmänner. Einmal täglich kommen sie vorbei. Meist gegen halb zehn. Schlecht bezahlt, aber noch immer meist in einem gelben Shirt und mit einem coolen Lachen auf den Lippen. Früher hießen sie Postbote. Sie brachten uns Liebesbriefe, auf die wir sehnsüchtig gewartet hatten, ungeliebte Rechnungen, unnötige Werbung. Sie waren Teil unserer Wahrnehmung, machten das Leben „begreifbar“ und waren so etwas wie das einzig existente Bingeglied zwischen hier oder dort. Vereinfacht gesagt waren sie Teil eines „world-wide-webs“, das nachts auf Schienen oder Straßen Verbindungen von irgendwo nach nirgendwo herstellte. Sie existieren. Real. Noch immer. Sie grüßen dich. Sie schauen dich an. Sie stinken. Oder auch nicht. Sie schmecken. Oder auch nicht. Sie verknüpfen. Das Sinnige mit dem Unsinnigen, das Hör- und Sehbare mit all dem Anderen, das uns mittlerweile abhanden gekommen ist.
Wenn Menschen traurig sind, brauchen sie ein Lachen, eine Streicheleinheit, manchmal auch nur ein Bonbon, das nach Waldbeeren oder der echten weiten Welt schmeckt oder riecht. Und all das muss man oft nicht einmal kaufen. Auch nicht downloaden oder installieren. Das gibt es. In echt. Irgendwo. Einfach so. Genial.
Und wenn der gelbe Downloadmann wieder kommt, bringt er mir bestimmt eine Einladung zu „Wetten dass?“ – auch wenn so etwas völlig neben dem Trend liegt. Wetten dass ?
aus RUE:
Mind the mid-life-crises !
Juli 2019
DER ALTE RECHNER UND DAS MEHR
Juni 2019
Wir sind gerade dabei, unser Leben etwas zu entschleunigen. Der alte Rechner und ich. Da öffnest du den Browser und er sagt dir: „Hey, Moment mal, ein Browser, was ist das überhaupt ? Was will der von mir ? Ins Internet ? Ich ? Ich soll all die Seiten aufrufen, die es sich eh nicht zu lesen lohnt ? Nein. Da mache ich nicht mit. Das kannst du nicht machen. Nicht mit mir!“
Demnächst wird er zum Teenie, mein Rechner, jung und in der Blüte seines Lebens. Und trotzdem alt. Steinalt. Ein Technikdino quasi. Aber er denkt mit. Von welchem Rechner kann man heute schon noch sagen, dass er mitdenkt ? Das neue moderne Zeug, das macht doch einfach nur, was du ihm sagst. Du denkst nicht über das nach, was du tust. Und der neue Rechner tut es auch nicht. „Hey, Moment mal, ein Textverarbeitungsprogramm ? Nicht so schnell, mein kleiner Freund ! Brauchst du das wirklich ? Ich lasse dir Zeit. Du musst jetzt nicht mehr unbedingt arbeiten. Entspanne dich. Lehne dich zurück. Die machen ihre Konferenz auch alleine. Schalt mich ein und schalt mich wieder aus. Es wird dir gut tun. Da hast du, ganz einfach gesagt, plötzlich wieder mehr vom Leben!“
Manchmal ist mir, als vergehen Tage. Da sitze ich und warte. Ich warte. Und warte. Und ich warte noch immer. Und merke, wie die Zeit vergeht. Nichts passiert. Aufgehängt. Er hat sich aufgehängt. Schon wieder. Ha. Hätte ich ein Täblett, ein Eipett oder ein Dingsdabums – längst wäre ich fertig. Aber was hätte ich davon ? Schön langsam, Junge. Mach mal schön langsam. Ob so ein Telefon geht oder nicht, egal. Ob die Toilettenspülung dein schlechtes Gewissen reinigt oder nicht, egal. Ob sie alle wie wild mit den Flügeln schlagen, nur um zuerst auf einer Liste zu stehen, egal. Und wie lange es dauert, bis du unter diesen Bedingungen eine Mail weiter geleitet hast ? Egal. Denn das weiß keiner. Das kann keiner wissen. Doch. Du könntest jetzt Herrn N. von der Hotline anrufen. Der würde wie immer den Kaffeelöffel zwanzig Mal nach links drehen. Und wenn du ihm erklärt hättest, um was es im Leben wirklich geht, würde er den Löffel erstmal wieder nach rechts drehen. Zwanzig mal. Politisch ausgewogen. Das wäre korrekt. Aber es würde nichts ändern.
Seit letzten Dienstag suche ich den Mehrwert in meinem Leben. Was wäre, wenn es schneller ginge ? Was wäre da noch alles möglich ? – Gesetzt den Fall natürlich, es würde funktionieren, es, das neumodische Ding. Komm ich heute nicht, komm ich morgen. Oder übermorgen. Oder auch gar nicht. An. Ich laufe. Mit. Oder gegen. Ich schwimme. Mit. Oder gegen. Ihn. Den Strom. Wir sind nicht so, mein Rechner und ich. Wir machen nicht nur. Wir denken. Vorher. Während. Danach. Nicht immer erfolgreich. Aber wir werden besser. Wir erkennen sie, die Gefahr. Wir erkennen sie, die Chance.
Muss ich da wirklich hin ? Brauche ich diese Seite wirklich ? – „Hey, eine Mail abrufen. Abends um diese Zeit ? Das ist nicht dein Ernst. Mach mal langsam, Junge. Mails kommen. Mails gehen. Sie füllen dein Postfach. Und das fühlt sich gut, so lange es gefüllt ist. Weg damit, in den Papierkorb. Ja, Wichtiges von Unwichtigem trennen. Das ist sie, die Kunst. Und mein alter Rechner und ich, wir beherrschen sie perfekt, diese Kunst.
Man mag mir vorwerfen, ich sei es selbst. Dieser alte Rechner. In der Tat. Ich rechne. Viel und gut. Aber ohne ihn hätte all das, was ich rechne, keinen wirklichen Mehrwert. So lange dieses alte Miststück nicht wirklich richtig funktioniert, so lange werde ich immer Zeit haben darüber nachzudenken, ob „es“ sein muss. Und was „es“ wirklich braucht.
A propos – eigentlich wollte ich mir im Herbst einen neuen Rechner kaufen. Aber einem Teenie machst du keine Party kaputt, einen alten Mann änderst du nicht mehr und je mehr ich darüber nachdenke – es geht mir zu schnell. Nein, ich brauche ihn nicht wirklich, diesen neuen Rechner ...
aus:
RUE – Mach mal schneller langsam.
Juni 2019
DER KAUFLADEN
Mai 2019
oder:
Warum Vertragsverhandlungen im Fußball nicht immer ganz einfach sind ...
Die heiße Phase beim Fußball hat begonnen.
Neue Spieler werden verpflichtet.
Ich war für euch dabei.
Das Mädchen:
Du, Junge, wollen wir Kaufladen spielen ?
Der Junge:
Das ist eine tolle Idee. Ich spiele gerne Kaufladen.
Das Mädchen:
Ich spiele die Verkäuferin.
Der Junge:
Dann spiele ich den Mann mit dem Geldbeutel.
Das Mädchen:
Guten Tag Mann, was willst du kaufen ?
Der Junge:
Ich möchte einen Fußballspieler kaufen.
Das Mädchen:
Wir haben viele Fußballspieler zu verkaufen.
Dort drüben gibt es welche, die den Ball nicht treffen, die kosten drei Willionen.
Dort hinten stehen welche, die immer verletzt sind. Die kannst du schon für fünf Willionen kaufen. Oder hier den, der immer den Elfmeter verschießt. Der kostet nur sieben Willionen.
Der Junge:
Ich möchte einen, der alles kann.
Das Mädchen:
Den Ball nicht treffen, verletzt sein und den Eltmeter verschießen? Der kostet 20 Willionen.
Der Junge:
Was – zwanzig Willionen ? Warum ist der so teuer ? Der kostet doch nur 17 Willionen !
Das Mädchen:
Den gibt es nicht so oft. Sei froh, dass er so billig ist. Wenn er auch noch in der Nationalmannschaft spielen würde, wäre er noch eine Willion teuerer !
Der Junge:
Nur eine Willion ?
Das Mädchen:
Ja, wenn ich mehr verlange, dann kauft ihn keiner. Die Nationalmannschaft ist nicht so ganz wichtig. Wichtig ist doch, dass er die anderen Dinge gut kann !
Der Junge:
Welche anderen Dinge ?
Das Mädchen:
Putzen, die Spülmaschine ausräumen, kochen. Mama sagt immer, dass ich mir einen Mann kaufen soll, der diese Dinge gut kann.
Der Junge:
Dann sind Fußballer gar nicht so teuer, weil sie schlecht Fußball spielen können ?
Das Mädchen:
Wer den Ball nicht trifft, der putzt den Platz, wer nicht laufen kann, sitzt daheim doch eh nur dreckig rum und wer den Elfmeter verschießt, bringt die Zuschauer zum Kochen.
Der Junge:
Sagt Mama ?
Das Mädchen:
Nein Papa.
Der Junge:
Versteht der etwas von Fußball ?
Das Mädchen:
Der hat schon einmal 30 Willionen gekostet. Der muss es wissen.
Der Junge:
Was ?
Das Mädchen:
Wie man ein guter Fußballspieler wird !
Der Junge:
Wann ist man ein guter Fußballspieler ?
Das Mädchen:
Wenn man viel Geld kostet.
Der Junge:
Wenn man ... ?
Das Mädchen:
Ja.
Der Junge:
Was kostet der Spieler dort hinten ?
Das Mädchen:
FÜNFZIG WILLIONEN !
Der Junge:
FÜNFZIG WILLIONEN ???
Warum ist der so teuer ?
Das Mädchen:
Weil er auch noch Eigentore schießt !
Der Junge:
Gut, den nehme ich !
Das Mädchen:
DEN NIMMST DU ?
Warum das denn ?
Der Junge:
Den leihe ich dann an unsere Gegner aus.
Das Mädchen:
Dann kostet er 60 Willionen.
Der Junge:
Ich habe es leider nicht passend.
Hier sind 100 Willionen, du kannst den Rest behalten.
Das Mädchen:
Den Rest behalten ?
Aber wo hast du denn das ganze Geld her ?
Der Junge:
Ich habe gestern mit deiner Freundin Kaufladen gespielt.
Da habe ich ihn für 200 Willionen an sie verkauft.
Das Mädchen:
Dann verdienst du ja 100 Willionen an einem Spieler, der Eigentore schießt, den Ball nicht trifft, dauernd verletzt ist und der zudem Eltmeter verschießt ?
Der Junge:
Ja, so ist es.
Das Mädchen:
Tut mir leid, ich behalte ihn doch lieber selbst.
Der Junge:
Warum das denn ?
Das Mädchen:
Ich habe leider kein Kleingeld und kann dir nicht rausgeben ...
aus:
RUE
Deal or no deal.
Mai 2019
GERMANY NO POINTS
Mai 2019
Kinder sind ja so herrlich ehrlich. Da sagte doch meine Tochter neulich zu mir: „Papa, der neue Song, den du da geschrieben hast, der besteht ja wieder nur aus drei Tönen.“ – „Echt ? Das hab ich noch gar nicht gemerkt. Das ist ja klasse, dann kann ich mit dem Song zum Eurovision Song Contest.“ – „Glaubst du wirklich, dass du mit diesem Lied eine Chance hast ?“ – „Nein. Aber gerade deshalb macht es doch Sinn, sich mit diesem Song für den Contest zu bewerben!“ – „Das verstehe ich nicht, Papa. Wenn du dahin fährst, dann willst du doch gewinnen!“ – „Schon. Aber ich hätte nichts zu verlieren. Weniger als null Punkte kann ich nicht bekommen und schlechter als letzter kann ich nicht werden.“
Zwei Wochen später saß ich im Green Room in Tel Aviv. Mein Auftritt war durch, ich wartete gespannt. Ich fühlte mich gut. Ich hatte alles gegeben. Naja, es war schon ein wenig mutig von den Juroren, mich zwei Wochen vor der Veranstaltung anstelle der zwei singenden Schwestern zu nominieren. Aber sie, die Juroren, hatten ein Einsehen und die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt, dass ein Newcomer wie ich mit ein wenig bunter Kleidung und Pogewackel dann doch eine kleine Chance hat.
Das ist aber auch ein Getöse. Eigentlich wäre ich lieber bei dem Held meiner Jugend, bei Major Heuser gewesen, drittletztes Konzert der laufenden Tour. Aber die Chance, vor einem Millionenpublikum zu spielen, die bekommst du nur einmal. Ich performte „Wenn Mozart das wüsste ...“ von meiner letzten CD. Ein Song, der gerade solche Wettbewerbe karikiert und eigentlich kein gutes Haar an derartigen Preisen lässt. Das war meine Chance. Sich abheben vom Rest. Kein Four-Chord-Song, nein, ein Drei-Ton-Wonder. Das brauchen sie, die Millionen. D-Dur, A-Dur und noch ein fis-Moll – das muss doch bitte reichen.
Die Spannung stieg, als der letzte Song gespielt war. The last favourite song. Ich stieg in mein Auto, zündete den Turbo, um nur ja rechtzeitig zur Punktevergabe wieder vor Ort zu sein. Here are the results of the Lummerland voting. Germany. No points. And Germany no points. L´Allemagne zéro points. Deutsland – nix Punkte. Gruezzi – nit. Ollalala – nied. Das lief äußerst schlecht. Für mich. Den Song. Deutschland. Und den Rest der Welt. Da gerät der euröpäische Frieden urplötzlich wieder gewaltig ins Wackeln. Wenn man die Briten für den Brexit mit dem letzten Platz abstraft, dann sind wir in Deutschland wohl auch bald mit dem EU-Austritt dran. Zumindest wäre das konsequent.
Ich frage mich noch immer, warum Deutschland nicht absteigen kann. Überall kann man absteigen. Im Sport, in der Schule, in billigen Pensionen. Nur nicht in diesem Wettbewerb. Naja schon, aber wir Deutschen sind da tatsächlich unabsteigbar, weil wir mit die ersten waren, die in den Fünfzigern diesen Wettbewerb zum Leben erweckt haben und das Geld deutscher Steuerzahler, pardon Medienriesen, in solchen Geschäften noch immer nicht zu verachten ist. Udo Jürgens, Katja Ebstein, Dschingis Khan, Nicole und die süße Lena. Und dann ich. Dieses Mal hat es mir nicht zum Sieg gereicht, aber ich bleibe dran.
Der ESC spaltet. Er schürt auf der einen Seite Nationalbewusstsein bis zum Umfallen – und auf der anderen Seite ist er außer der Fußball-WM das globalisierteste Medienspektakel schlechthin.- Wenn weltweites Brot schon nicht funktioniert, dann brauchen wir wenigstens weltweite Spiele. Der Schlager früher war heile Welt. Heile Welt in einer kleinen Welt. Wirtschaftswunder. Deutschland stand wieder. Europa wuchs. Damals. Der Wettbewerb heute ist ein Spiel West gegen Ost und Ost gegen West. Kalter Krieg. Zirkus. Fast ein wenig James Bond, nur subtiler. Es funkelt und glitzert, es jammert und piepst – gewaltig – und irgendwo dazwischen ich auf dieser Couch im Green Room.
Nun ist es egal, ob es der Green Room in Malsch oder der in Tel Aviv ist. Ich war gerade noch rechtzeitig zu Hause, als das Ergebnis feststand: Germany – sorry - no points. Kein Publikum, kein Land in Europa und sonstwo hat auch nur einen winzigen Punkt für Deutschland übrig. Nehmen ja. Aber geben ? – Fehlanzeige.
Eine Nacht später hat der Spuk ein Ende. Es ist egal, ob die zwei Schwestern verloren haben, oder ob ich es war. Es war zumindest ein geniales Konzert – „No end in sight“, welch ein begnadeter Gitarrist, dieser Major ... - „Papa, wer hat eigentlich beim ESC gewonnen ?“ – „Och, das ist nicht so wichtig. Ich jedenfalls nicht !“ – „Siehst du, das habe ich dir gleich gesagt!“ – „Was ?“ – „Dass du mit drei Tönen keine Chance hast ... !“ – „Stimmt, deshalb werde ich nächstes Jahr einen neuen Versuch starten. Dann mit einem Song, der nur aus zwei Tönen besteht. Drei scheint einer zu viel. Zwei, das ist glaube ich das, was das Publikum braucht und versteht. Alles wird gut. Und ich werde gewinnen!“ – „Und wie heißt der Song, mit dem du dann auftrittst ?“- „Na da gibt es nur eine Möglichkeit. Der Song heißt „Germany no points!“. Und er ist längst geschrieben !“
aus:
RUE
Zwischen Rock und Schlager
Mai, 2019
WAHRE GESCHICHTEN
Mai 2019
13 x 18
Die Frau am Telefon:
Guten Tag, was kann ich für Sie tun ?
Der Mann am Telefon:
Ich würde mich gerne bei Ihnen beschweren.
Die Frau:
Das ist aber mal schön. Darauf bin ich spezialisiert.
Der Mann:
Gut. Kann ich jetzt anfangen ?
Die Frau:
Ja, gleich. Noch einen Moment. Dieses Gespräch wird nämlich zu Schulungszwecken mitgeschnitten.
Der Mann:
Kann ich vielleicht jetzt anfangen ?
Die Frau:
Ja gleich. Noch einen Moment. Ich hole mir noch eine Tasse Kaffee. Vielleicht könnte das Gespräch ja länger dauern.
Der Mann:
Aber jetzt kann ich anfangen ...
Die Frau:
Noch etwas Milch. Und etwas Zucker. Wo ist gleich der Löffel. Ah ja, hier. Umrühren.
Der Mann:
Wird zu Schulungszwecken mitgeschnitten.
Die Frau:
Umrühren will gelernt sein.
Der Mann:
Aber ich möchte mich beschweren.
Die Frau:
Das habe ich ganz vergessen. Um was geht es denn ?
Der Mann:
Ich habe Fotos bestellt. Dreizehn mal achtzehn. Und bekommen habe ich Fotos ...
Die Frau:
Das ist doch perfekt, das klappt nicht immer.
Der Mann:
... zwölf komma fünf mal sechzehn.
Die Frau:
Das ist doch mal etwas.
Der Mann:
Nein, das ist nichts.
Die Frau:
Wieso ?
Der Mann:
Ich habe nämlich auch Bilderrahmen bestellt. Dreizehn mal achtzehn.
Die Frau:
Das ist klug, wenn man nämlich zwei gleiche Größen bestellt, dann passen die Fotos in den Rahmen.
Der Mann:
Eben nicht.
Die Frau:
Nein ?
Der Mann:
Nein, die Fotos sind zu klein.
Die Frau:
Aber das ist doch gut. Stellen Sie sich vor, die Fotos wären größer als die Bilderrahmen. Da hätten Sie ein Problem.
Der Mann:
Ich habe ein Problem. Das Bild füllt den Rahmen nicht aus.
Die Frau:
Und deshalb wollen Sie sich beschweren ?
Der Mann:
Ja. Ich möchte die Bilder noch heute einrahmen und noch heute verschenken. Aber so passt das nicht. Ich habe hier Rahmen für 40 Euro und Fotos, die nicht passen.
Die Frau:
Rahmen für 40 Euro ? Das ist aber unverschämt teuer. Sie können froh sein, dass die Fotos nicht so teuer waren.
Der Mann:
Aber die passen nicht.
Die Frau:
Dann gehen Sie doch in einen Laden und drucken Sie die Fotos noch einmal aus. Dreizehn mal achtzehn.
Der Mann:
Und wer bezahlt mir das ? Ich habe Fotos die nicht passen, muss 30 km in den nächsten Laden fahren und brauche eine Stunde Zeit. Das kostet 120,- Euro.
Die Frau:
Aber die kann ich Ihnen nicht bezahlen. Ich habe ja nichts bei Ihnen bestellt. Dann kann ich ihnen auch nichts bezahlen.
Der Mann:
Tatsache ist, dass ich die Fotos noch heute brauche. Dreizehn mal achtzehn.
Die Frau:
Möchten Sie jetzt, dass ich zu Ihnen fahre und die Fotos abhole und Ihnen neue bringe ?
Der Mann:
Das werden Sie wohl kaum tun. Aber Sie könnten mir vielleicht erklären, warum die Fotos kleiner sind als bestellt.
Die Frau:
Das weiß ich nicht. Da bin ich nicht für zuständig. Aber ich könnte Ihnen mal eine Nummer geben ...
Der Mann notiert die Nummer, ruft an und bekommt von einer anderen Frau folgende Erklärung: Eine Pocketkamera erzeugt Fotos mit einem anderen Seitenverhältnis, da kann es schon einmal sein, dass die Fotos am Ende kleiner werden als man denkt. Das hätte ich auch in der Infobox beim Hochladen der Bilder nachlesen können. Auf meine Frage, warum die automatische Bildoptimierung nicht wenigstens auf eine Breite von dreizehn vergrößert, ist die Frau sprachlos ...
aus:
RUE
So ist das Leben – eben
erlebt im Mai 2019
MENSCHENFRESSER
Mai 2019
Heute ist wieder mal mündliche Prüfung. Da habe ich mir sogar extra ein weißes Hemd angezogen. Das ist ja schon ein besonderer Anlass, so eine mündliche Prüfung. Und die Schuhe habe ich mir geputzt. Schwarz. Erdal. Perfekt. Extra dafür. Hochglanz. Das mache ich nicht wirklich oft, aber wenn es sein muss und etwas bringt, dann lasse ich nichts unversucht.
Ich habe schon immer etwas Respekt, wenn so eine mündliche Prüfung stattfindet. Da kommt man schon mal leicht aus dem Konzept, wenn man über die Jahre die Übung etwas verloren hat. Menschenfresser sind das. Die haben es auf dich abgesehen. Die haben bestimmt noch nichts gefrühstückt. Die zerreißen dich. So. Wie sie es brauchen. Natürlich habe ich mich gut vorbereitet. Ich war schon immer gut vorbereitet, wenn es darum ging, an einer mündlichen Prüfung teilzunehmen. Aber heutzutage weißt du ja gar nicht mehr, was sie mit dir machen, diese Menschenfresser. Unberechenbar sind sie geworden, diese Typen. Unberechenbar sind sie geworden, diese Prüfungen.
Ja, klar. Es kann schon einmal passieren, dass man während der Prüfung nicht mehr weiter weiß. Da überlegt man sich natürlich vorher schon gut, wie man solche Momente überbrückt. Ich rede da immer über Implantate. Das kommt gut an. Das ist so völlig anders. Entspannt. Und baut Brücken. Nicht nur zwischen Zähnen. Hier ein Schmerz, dort ein Stechen. Sinuslift. Röntgenbilder. Abdrücke. Zahnfarben. Das schafft Transparenz. Das ist gerecht. Da kommt man plötzlich ganz eng zusammen in solch einer Prüfung.
Eisbrecherfragen. Mein alter Prof hat früher immer von Eisbrecherfragen geschwärmt: „Wie war die Fahrt ?“ – Schlecht. „Haben sie gut geschlafen ?“ – Nein. „Halten Sie es für demokratisch, wenn ich Ihnen jetzt zu Beginn der Prüfung ein Glas Wasser anbieten würde ?“ – Keine Ahnung, aber Durst hätte ich schon. Ja, diese Fragen schaffen Atmosphäre, die lockern auf. Oder ein süßes Stückchen. Stell doch mal ein süßes Stückchen auf den Tisch, und du wirst sehen, dass plötzlich alle entspannt sind: Der Prüfer, der Prüfling und auch das süße Stückchen. Letzteres weiß zwar genau, dass es nur noch wenige Minuten zu leben hat. Aber es bleibt völlig ruhig und entspannt. Ehe dann der Menschenfresser – schwupp, schon ist es weg. Glück gehabt. Ich lebe noch.
Was ist schon eine gerechte Prüfung ? Und was ein gerechter Unterricht. Wem will, wem kann man es recht machen ? Für den einen ist zu schnell, was für den anderen zu langsam ist. Der eine hats gefressen, der andere nicht. Der noch andere wollte es gar nicht fressen. Nie. Und nimmer. So sitzen wir also voreinander, er und ich und fragen uns manchmal, wer hier eigentlich die Fragen stellt. Wer Lehrer ist, und wer Schüler. Beide ratlos. Beide ohne Plan. Beide in der misslichen Lage, in diesem Raum zu sitzen, obwohl man dort gar nicht sitzen möchte – oder gar nicht garnicht sitzenbleiben – möchte ...
Allmählich merke ich, dass mir das Hemd in den letzten Jahren zu eng geworden ist. Wir kennen die Geschichte. Es war nicht der Bauch. Ihr wisst schon. Es war das Hemd. Mein Gegenüber grinst mich an, zuckt mit den Schultern und fragt mich verlegen „Brauchen Sie vielleicht eine Sicherheitsnadel ?“ – Mühsam versuche ich ihm zu erklären, dass es in einer Prüfung nicht um eine Sicherheitsnadel, sondern um Inhalte geht. Da ist kein Platz für Emotionen oder Gefühle. Da wird geprüft. Was das Zeug hält. Da ist Mitleid fehl am Platz. Und zwar auf beiden Seiten.
Die eine Hälfte der Zeit ist um. Die andere Hälfte der Zeit verrinnt. Es geht voran. Ich bin noch immer am Leben. Das hatte ich so nicht erwartet. Aber irgendwie haben wir beide, er und ich, so eine Art, nennen wir es „Nichtangriffspakt“ geschlossen. Lass du mich in Ruhe, dann lass ich dich in Ruhe. Nicht fressen und gefressen werden, sondern Selbstkontrolle. Sie wird schon noch vollends vergehen, diese restliche Zeit, die eigentlich verschenkte Zeit ist. Abpfeifen. Jetzt könnte er endlich abpfeifen, denke ich mir. Was könnte man nicht alles tun in dieser Zeit, in der man sowieso nicht weiß, ob es hinterher gereicht hat, oder auch nicht. In der Zeit, in der keiner so recht weiß, mit welchem Maß gemessen oder Gerechtigkeit hergestellt wird.
Ich könnte jetzt nicht wirklich sagen, über was wir in dieser Stunde gesprochen haben. Aber: Bestanden. Die Prüfung ist bestanden. Ich wusste es, auch wenn ich eine Minute vorher noch dieses seltsame Gefühl im Bauch hatte. Volle Anstrengung. Und zack. Weggehauen. Mann, war das gut. Nein, es war nicht nur gut. Es war grandios, es war souverän. So souverän. Manchmal muss man all seinen Mut zusammen nehmen. Und es dann einfach machen. Volles Risiko. Den Mund auf – und: „Lass mich in Ruhe du Menschenfresser. Ich weiß genau, du hast noch nicht gefrühstückt. Aber mich, mich frisst du nicht. Du wirst dir den Magen an mir verderben.“ – Nur selten zuvor habe ich in meinem Leben mit solch einer Bestimmtheit artikuliert, was es zu artikulieren gab. Nichts. Schlicht und ergreifend – nichts.
Er hat mich schon etwas irritiert angeschaut, nachdem ich so klar, so deutlich, so bestimmt geworden bin wie nie zuvor. Die Fronten waren geklärt. Er wusste, wie es mir wirklich ging. Und er wusste auch, wer ich wirklich war. Hätte ich allerdings gewusst, dass Menschenfresser keine frisch geputzten Schuhe vertragen, hätte ich ihn nicht so angebrüllt, diesen Schüler.
aus
RUE – Verkehrte Welt
Mai 2019
DEM TEUFEL AUF DEN KOPF GETRETEN
April 2019
Da musst du schon mal dem Teufel auf den Kopf treten. Das hat Mama immer gesagt. Und das hat sie auch so gemeint. Nicht nachlassen, nicht aufgeben, nein, gegen alle Widerstände den Kopf oben halten, quasi Augen zu und durch.
Mir war als Kind nicht unbedingt klar, was sie mir mit diesem Sprichwort sagen wollte. Aber bei den Sprichwörtern, da war sie gut. Lebensweisheiten, Mantras, vielleicht auch stellenweise Klugscheißereien. Am Ende war es zumeist die Besserwisserei des Alters. Wenn es nicht mehr weiter geht, dann geht es weiter. Irgendwie. Und wenn du denkst es geht nicht mehr, dann kommt irgendwo ein Lichtlein her.
Da stand er also vor mir, er, der Teufel, höchstpersönlich, vor zwei Wochen. Lieber Rüdiger, nun hast du also Ferien, da ist es an der Zeit, dich zu holen. Schau mal, da ist sie schon, deine üble mörderische Erkältung. Die habe ich extra für dich mitgebracht. - Nein, liebster Teufel, da hast du keine Chance, ich trete dir nämlich auf Kopf ! - Auf den Kopf ? Was du nicht sagst. Das kannst du gar nicht. Du wirst dich jetzt schön brav in dein Bettchen legen und krank sein. So wie ich das will. Und weil ich der Teufel bin, wird gefälligst gemacht, was ich will. Gefälligst. Tu ihn mir wenigstens, den Gefallen. Tu so, als wärst du krank.
Profitiert hat eindeutig die Apotheke meines Vertrauens. Wo an den Feiertagen findest du schon den Arzt, der dir jegliches Hustengetöse verschreibt, das du brauchst ? Rezept Fehlanzeige. Also kaufe alles, was rezeptfrei zu ergattern ist. Macht achtzig Euro. Und ein Päckchen Tempo. Gratis. Das ist stark, da willst du gar nicht mehr krank sein.
Tagsüber Augen zu und durch. Gartenarbeit war nötig. Drei Tage. Durchgehalten. Abgehakt. Nachts gehustet. Familienausflüge waren auf dem Programm. Drei Tage. Durchgehalten. Abgehakt. Nachts gehustet. Wohnung umräumen. Drei Tage. Durchgehalten. Abgehakt. Nachts gehustet. Ja, Mama hat immer gesagt, es würde neun Tage brauchen. Das Elend. Drei Tage kommen, drei Tage bleiben und drei Tage gehen. Und dann dem Teufel – autsch – auf den Kopf treten. Oder etwas biblischer gesprochen: aufstehen, auferstehen, am dritten Tage auferstanden von den ... Klar, das ist eine andere Geschichte, aber die magische Zahl steht. Musik machen. Drei Tage. Durchgehalten. Und er wurde weniger, der Husten. Aber mal ehrlich – die Anstrengung wird nicht weniger, Erholung braucht länger. In anderen Worten: Es wird nicht leichter, dem Teufel auf den Kopf zu treten. Aber ich – ich schaffe das. Noch immer schaffe ich das. Stolz wäre sie, meine Mama, wenn sie das wüsste. Und es steht natürlich die Hoffnung, dass der jüngere Teil der Truppe hier später auch einmal versucht – dem – Teufel – auf – den – KOPF – ZU – TREEETEN !!!
Nun frage ich mich, was ich in den letzten zwei Wochen gemacht habe. Nicht viel, denn ich war krank. Und doch jede Menge, denn ich habe dem Teufel auf den Kopf getreten. Dem Rasen hat es gut getan. Ein Garten braucht Liebe. Nun wächst er und gedeiht. Damit hatte er nicht gerechnet. Widerstand, das ist nicht sein Ding. Fakt ist, dass der brave Beamte in den Ferien krank ist. Fakt ist, dass er noch immer nicht hundert Pro fit ist, aber wer dem Teufel auf den Kopf treten kann, der lässt sich nicht so schnell unterkriegen.
Ach so, ich hätte es fast vergessen: Wenn euch jetzt mal irgendwo ein Typ entgegenkommt, der sich den Kopf hält, seid achtsam – es könnte der Teufel sein. Aber lasst ihn nicht gewehren, sondern macht es wie ich – er wird euch früher oder später in Ruhe lassen !
aus
RUE - Die etwas andere Osterbeichte
April 2019
DER HEILIGE BILDUNGSPLAN
April 2019
Als der Heilige Bildungsplan kurz vor Ostern zu Besuch in der Schule war, sprach er zu den Lehrern: Ihr sollt den Kindern keine Geschichten vom Osterhasen erzählen. Ihr müsst ihnen endlich das beibringen, was wichtig für sie ist, was eine Bedeutung für sie hat, was sie später im Leben einmal brauchen können.
Du, Mathelehrer, du sollst den Kindern beibringen, wie Pythagoras gerechnet hat, was eine Parabel ist und wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, beim Kniffelspiel einen Pasch zu werfen. – Nein, Heiliger Bildungsplan, erwiderte der Mathelehrer, wichtig ist, dass die Kinder im Leben nicht beschissen werden, dass sie später mal ausrechnen können, wie wenig Netto ihnen vom Brutto bleibt oder dass sie erkennen können, dass Steuergelder nicht immer richtig investiert und fair verteilt werden.
Du, Erdkundelehrer, du sollst den Kindern beibringen, wo welche Länder liegen, wo ihre Grenzen verlaufen oder wie die Flüsse heißen, die durch Europa fließen. – Nein, Heiliger Bildungsplan, erwiderte der Erkundelehrer, das ist nicht wichtig. Wichtig ist, dass sie verstehen, dass wir nicht noch mehr Grenzen brauchen, an denen Mauern und Zäune errichtet werden, Grenzen, die Menschen trennen, statt sie zu vereinen. Wichtig ist, dass sie erkennen, wie fundamental zum Beispiel auch sauberes Trinkwasser ist und dass bedeutende Ökosysteme im Gleichgewicht bleiben müssen.
Du, Politiklehrer, du sollst den Kindern beibringen, wie eine Demokratie funktioniert, dass sie sich an Gesetze halten müssen oder auch, dass es eigentlich verboten ist, für die Rettung des Weltklimas während der Schulzeit auf die Straße zu gehen. – Naja, Heiliger Bildungsplan, allmählich wirst du etwas konkreter. Aber ist es nicht viel wichtiger und richtiger, dass unsere Kinder ihre eigene Meinung vertreten, Recht und Unrecht unterscheiden können und dafür eintreten ? Sollen sie nicht lernen, sich zu interessieren, politisch zu denken, nein, zu handeln und den Mut haben, für ihre Ziele zu kämpfen ?
Und zuletzt du, mein geschätzter Ethiklehrer, du sollst den Kindern lehren, wie das Gewissen arbeitet, welche Werte wichtig sind oder wie – wie zum Beispiel die Goldene Regel lautet. – Ach, heiliger Bildungsplan, so der Ethiklehrer, hör mir doch auf mit deinen Theorien. Du verkennst längst die Praxis. Darum geht es doch nicht. Meine Schüler sollen ethisch handeln können. Sie sollen bei einer Klassenarbeit nicht etwa auswendig gelernten Schulstoff aufschreiben können, sondern im Leben anderen Menschen helfen, für ihre Freunde einstehen, anderen Menschen offen und tolerant begegnen, auch wenn diese anders denken als sie selbst.
Ihr mit eurem leeren Gerede, entgegnete der Heilige Bildungsplan wütend, ihr werdet schon sehen, wohin das noch führen wird. In der Schule muss gelernt werden. Weg mit all dem Süßkram! Nur wer etwas weiß, kann auch etwas denken. Und nur wer denken kann, kann entsprechend handeln. – Es mag schon sein, dass dem so ist, Heiliger Bildungsplan. Damit haben wir es ja auch probiert. Aber damit kommen wir nicht durch. Das allein ist es nicht. – Was ist es dann ? – Geh doch mal und frag bei den Schülern nach !
Als der Heilige Bildungsplan zuerst in eine Matheklasse, dann in eine Erdkunde-, Politik- und zuletzt in eine Ethikklasse ging und die Schüler fragte, was in Mathe, Erdkunde, Politik und Ethik wirklich gelernt werden muss, was wirklich wichtig ist, bekam er stets die gleiche Antwort: „Wichtig ? Wichtig ist nur, dass wir hier Spaß haben ! Der Rest, der interessiert uns nicht !“
Als der Heilige Bildungsplan irritiert das Schulgebäude verließ, traf er am Ausgang auf den Wirtschaftslehrer: Na, du Heiliger Bildungsplan, auch mal wieder hier ? – Ja, aber wo kommst du denn her ? – Ich komm von draußen, ich hab die Schüler da abgeholt, wo sie sind: Wir waren Ostereier suchen. Das macht Freude, bringt Spaß und gute Laune, das schmeckt und bereitet sogar auf das Leben vor. – Bereitet auf das Leben vor ? – Ja, mit den Ostereiern ist es, wie mit dem wahren Leben: Der eine sucht und findet nichts. Der andere sucht nichts, aber findet. Der nächste findet mehr als der vorige, obwohl er es nicht verdient hat und wieder ein anderer isst seine Eier selbst, während sein Nachbar alle Eier verschenkt. – Das ist Differenzierung pur, das ist genial, mein lieber Kollege, erwiderte der Heilige Bildungsplan, aber was machst du in der nächsten Stunde ? – In der nächsten Stunde erkläre ich, wie das Soziale Netz funktioniert: Ich nehme denen, die kaum Eier gefunden haben, noch ein paar Eier weg und schenke sie denen, die schon genügend haben. – Aber bester Wirtschaftslehrer, das ist doch falsch ! – Es mag falsch sein, Heiliger Bildungsplan, aber es ist Lernen aus dem Leben und für das Leben. Es ist das, was sie wirklich verstanden haben müssen - und das wolltest du doch, oder nicht ?
aus:
Ambivalenzen eines Schultags
RUE
April 2019
ÜBERDIGITALISIERT
April 2019
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Ich weiß es. Du weißt es auch. Wir wissen es doch alle. Längst. Aber keiner traut sich, etwas dagegen zu sagen: Wir sind überdigitalisiert.
Nutzen Sie den neuen Kopierer. Der kopiert, bis auch das letzte Blatt schwarz wird. Der druckt auch. Für Vordrängler, ganz ohne Warteschleife. Wechseln Sie die Trommel, der Toner ist leer. Autsch. Kein Papier mehr. Wählen Sie Ihren Song. Singen Sie, erstellen Sie eine Playlist und freuen Sie sich darauf, ihren längst vertrockneten Rasen mit der neuen Garten-App zu sprengen. Nutzen Sie die Angebote unserer künstlichen Intelligenz. Und hören Sie doch bitte endlich auf, über Digitalisierung nachzudenken. Da können Sie nichts machen. Da können Sie nichts tun. Das ist der Lauf der Zeit. Loggen Sie sich ein. Jetzt. Ich habe gesagt, Sie sollen sich jetzt einloggen. Nicht so aggressiv, junger Mann. Essen Sie ein Leberwurstbrot und warten Sie, bis Ihnen der Zugangscode wieder einfällt. Wechseln Sie den Benutzer. Sie sind doch nicht sie. Nie mehr werden Sie Sie selbst sein. Geben Sie sich keine Mühe. Auch nicht nach einem Jahr. Fahren Sie den Rechner herunter. Wenn Sie Glück haben, schaltet er sich alleine aus. Wenn nicht – dann warten Sie. Warten Sie. Warten Sie ganz einfach. Warten Sie, bis die Zeit vergeht.
Ich weiß es. Du weißt es auch. Wir wissen es doch alle. Längst. Aber keiner traut sich, etwas dagegen zu sagen: Wir sind überdigitalisiert.
Täglich vergeht sie, die Zeit. Hier ein paar Minuten. Dort eine halbe Stunde. Laden Sie Energie. Energie. So viel wie nie. Zuvor. Sie werden Sie brauchen. Ihre Akkuleistung beträgt noch 23%. Das ist schlecht. Aber es reicht noch aus, um eines Tages den wohl verdienten Ruhestand zu erreichen. Die Restlaufzeit Ihres Lebens beträgt noch 49 Jahre, zwei Monate und 13 Tage – wenn es gut läuft. schmieden Sie Pläne. Nutzen Sie hierzu Booking-Online. Aber fragen Sie nicht. Fragen Sie nicht, wozu das gut ist. Hier können Sie Ihr Auto verkaufen. Schon wieder. Hatten wir das nicht schon einmal ? Schärfen Sie den Kontrast, konstruieren Sie online, aber verzweifeln Sie nicht. Hier können Sie Ihre Gefühle zwischenspeichern. Press the button. Use this key. Aber wundern Sie sich – nicht und nimmer !
Ich weiß es. Du weißt es auch. Wir wissen es doch alle. Längst. Aber keiner traut sich, etwas dagegen zu sagen: Wir sind überdigitalisiert.
Vor mir liegt ein kleines Stück Kreide. Ganz vorsichtig fasse ich es an. Fast hätte ich es nicht mehr erkannt. Wir schaffen das Kreidezeitalter in den Schulen ab. Fast wäre es gelungen. Doch dieses kleine Stück hier. Es hat überlebt. Was hat man schon so alles ausgerottet. Auf diesem Planeten, in diesen Städten, in unseren Schulen. Was verplempern wir Zeit, kostbare Zeit, im Kampf mit – oder gegen ? – scheindigitale Welten. Ich könnte es inserieren, dieses Stück Kreide. Dort drüben, gleich, jetzt, online, im Internetshop. Würde es jemand kaufen ? Würde sich jemand daran erinnern ? Ich nehme es in meine Hand. Wie habe ich das früher eigentlich gemacht ? Schreiben ? Damals, als meine Jacke täglich nach bunter Kreide roch. Wie war das noch mal ?
Ich weiß es. Du weißt es auch. Wir wissen es doch alle. Längst. Aber jetzt wird es Zeit, es endlich mit weißer Kreide an diese letzte grüne Tafel zu schreiben: Wir sind überdigitalisiert.
Endlich fühlt es sich wieder gut an. Mein Leben. Ich habe es getan. Gegen jede Vorschrift, gegen jeden Trend, gegen jede falsche Wahrheit: Ich habe geschrieben. So, wie damals, habe ich geschrieben. Und: Es hat funktioniert. Einfach so. Keine gestörte Verbindung. Kein Pop-Up-Fenster. Kein Kaufangebot. Keine gekappte Leitung.
Stille. Unendlich laute Stille. Dann ein tosender Applaus. In der Mitte: Ich. Nur ich. Ich mit mir. Und meiner Kreide.
aus:
RUE – „Hingeschaut“
April 2019
DÖNERSTAG
März 2019
Heute Nachmittag, an einer kleinen feinen Dönerbude in Süddeutschland ...
Der Mann: Guten Tag, ich hätte gerne einen kleinen Döner.
Die Frau: Kleine Döner nix. Alle Brot gleis groß.
Der Mann: Dann machen Sie mir bitte einen Döner mit wenig Fleisch und etwas Salat.
Die Frau: Du nix Hunger ?
Der Mann: Doch, schon, aber keinen großen. Nur kleinen.
Die Frau: Kleine Döner nix. Nur große Döner.
Der Mann: Ja bitte, aber mit wenig Fleisch und wenig Salat.
Die Frau: Große Döner mit wenig Fleiss und wenig Salat und viel Soße.
Der Mann: Nein, mit ohne Soße. und ohne scharf.
Die Frau: Ohne Schaf ?
Der Mann: Ja, ohne scharf.
Die Frau belädt ein Fladenbrot mit einem Berg Fleisch, dazu Tomaten, Gurken, Mais, Salat, doppelt dünnste Soße für, nein gegen Menschen mit Laktoseintoleranz, und streckt dem Mann freudestrahlend den Döner entgegen.
Die Frau: Hier, große Döner ohne Schaf.
Der Mann: Ja, äh, aber ich wollte doch nur, also.
Die Frau: Nix Schaf !
Der Mann: Ja schon, aber auch kein Mais, keine Tomaten, keine Gurken ...
Die Frau: Döner ohne alles und ohne Schaf ?
Der Mann: Quasi – ja !
Die Frau: Quasi ?
Der Mann: Ja, also, mit ohne ...
Die Frau: Mit ohne ?
Der Mann: Ohne !
Die Frau: Ohne nix Schaf ?
Der Mann: Nein mit ohne nix Schaf !
Die Frau: Mit ohne nix ?
Die Frau schüttelt entsetzt den Kopf.
Der Mann: Nein, also ja, doch, ohne, also nicht mit, aber ...
Die Frau: Nein, also ja, doch, ohne, also nicht mit, aber ...
Du deutsche Mann ?
Der Mann: Nein, also ja, doch, ohne, also nicht mit, aber ...
Die Frau: Deutsche Sprache, swere Sprache.
Aber Mann, du jetzt Döner esse, werde kalt ...
Der Mann: Ja äh, ja, gut, also dann mal, äh ...
Die Frau: Isse guud ?
Der Mann: Isse ?
Die Frau: Isse de Döner guud ?
Der Mann: Essen ?
Die Frau: ISSE DE DÖNER GUUUUD ???
Der Mann: Ja, doch, äh, also nein, ja eigentlich schon,
aber ...
Letztlich hat es der Mann geschafft, den Döner zu essen.
Aus Liebe zu dem anderen Menschen.
Sein Bauch sagt ihm aber, dass er ob seiner Laktoseintoleranz
bei der nächsten Dönerbude künftig klarer kommunizieren muss ...
aus:
Warum das mit der Völkerverständigung nicht immer ganz einfach ist ...
RUE – März 2019
MATHE SCHAFFT KEINE PROBLEME,
MATHE LÖST SIE ... MANCHMAL ... ZUMINDEST ...
Februar 2019
oder: Warum Steuerlöcher durchaus etwas Biblisches haben ...
Da haben wir nun den Salat im Staat. Kaum ist ein anderer Mensch Bundesfinanzminister, werden Haushaltslöcher entdeckt, wo es noch nie welche gab. Nichts mehr mit bester Konjunktur, nichts mehr mit Milliardengewinnen.
Alles eine Frage der Perspektive und der Rechnung – der Be-rechnung. Ganz ehrlich: Ob nun kein Geld mehr für die Bundeswehr vorhanden ist oder der Digitalpakt für deutsche Schulen auf Eis gelegt wird – das spielt keine Rolle.
Manchmal scheint es, als verlieren wir den Blick für die wahre Dimension. Was sind 24 Milliarden ? Nun. Für einen einzelnen Menschen ist das durchaus viel Geld. Eis, war das Stichwort: Er, dieser Mensch, könnte sich ein Leben lang täglich eine Kugel Eis kaufen – und gleich noch für fast jeden Menschen in einer deutschen Großstadt mit 100 000 Einwohnern eine Kugel Eis spendieren. Täglich. Ein Leben lang. Zumindest, wenn wir von einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 80 Jahren ausgehen. Für alle. Sozialschmarotzer, Steuerhinterzieher, Bayernfans, Stammtischbrüder – alle würden satt. Auch sonntags. Zumindest dann, wenn die Kugel Eis nicht mehr als einen Euro kostet und sich jeder nur kauft, was er braucht. Eine Kugel Eis. Keine zwei.
Nun stopft eine Kugel Eis noch lange keine Milliardenlöcher. Zumindest nicht auf den ersten Blick. Vor allem auch deshalb nicht, weil die Kugeln ja erst einmal gekauft werden müssen. Oder vorher produziert. Aber gerade damit ließe sich, wir wissen es, eine Menge an Steuereinnahmen erzielen. Statt zu sparen, lebe der Konsum. Nur investieren bringt Gewinn. So bringt denn auch der Digitalpakt für Schulen weitere Steuereinnahmen. Man verkauft Hardware, Software, Buchware, stellt Techniker ein, die für eine optimale Betreuung der Schulen verantwortlich sind und Mamas Lieblinge sind sowieso glücklich, da sie nun auch in der kleinen Fünfminutenpause mit dem Kästchen spielen können, nein dürfen oder müssen. Es lebe die Sucht. Ungesehen. Versteht sich. Naja, zumindest scheinbar ungesehen. Dass die Geräte in den Pausen auf Empfang stehen müssen, das erklärt sich von selbst. Wir müssen ja schließlich erreichbar sein. Abholbar bleiben. Mamataxi. Erfrieren könnte er sonst, der Kleine, wenn es kalt ist dort draußen.
Nein, keine Zeit für kleine Späße. Ich möchte uns an dieser Stelle tatsächlich die Angst vor einem 24 Milliardenhaushaltsloch in den nächsten Jahren nehmen und an einer weiteren, ganz einfachen Rechnung eine klare Perspektive bieten, wie man derartige Löcher künftig stopfen kann: 24 Milliarden bei 80 Millionen Einwohnern – das entspricht kläglichen 300 Euro pro Kopf. Auf mehrere Jahre. Immer noch pro Kopf. Auf zweieinhalb Jahre gesehen wären es lediglich 10 Euro. Pro Monat. Und pro Kopf. Wären wir alle Kinder, so würde es quasi ausreichen, die Erhöhung des Kindergelds um etwa genau diesen Zeitraum zu schieben. Glücklicherweise sind wir nicht alle Kinder. Es gibt auch Rentner, Arbeitslose, Geringverdiener. Bei all jenen ließe sich noch viel mehr Geld einsparen, denn ihnen hat man noch vor der Wahl deutlichere finanzielle Entlastungen in Aussicht gestellt. Und würde man die Abschaffung des Solis noch einmal um ein Jahr verzögern, wäre das Loch ebenfalls mehr als gestopft.
Kein Grund also zur Panik, es gibt genügend Handlungsspielraum. Man muss ihn nur erkennen und so nutzen, dass getroffene Hunde nicht gleich wieder anfangen zu bellen. Und es keiner merkt. Zumindest keiner von denen, die bellen könnten.
Ich gehe mir indes eine Kugel Eis kaufen. Im Winter. Wenn die Nachfrage geringer ist und der Preis kleiner. Damit kurble ich nicht nur die Wirtschaft an, sondern spare selbst bares Geld. Wenn ich dann erst einmal genügend gespart habe, werde ich es spenden. Den Bedürftigen, vielleicht aber auch gleich direkt unserem Staat. Ohne Umwege. Ohne Zwischenfinanzierung. Und wenn wir alle so biblisch selbstlos handeln, wird das Steuerloch gestopft sein, bevor es überhaupt zu existieren beginnt ...
aus: Kamufs Kolumne - Schwarze Löcher
Feburuar 2019
WAHRENKÖRBE
Januar 2019
Willkommen im „Neuen Jahr“ 2019. Willkommen im Reich der Preiserhöhungen. Willkommen in einem der vielen Wahrenkörbe, nein, Warenkörbe. Natürlich. Aber wahr sind sie schon. Und wahrlich ärgerlich ist es, was die Preisspirale so mit ihnen treibt. Mit ihnen, diesen Warenkörben.
Für uns alle habe ich ein wenig gerechnet. Ein wenig Wahrheit errechnet. Und egal, in welchem Warenkorb, nein, nun wieder Wahrenkorb wir sitzen – die Wahrheit ist die gleiche – oder die selbe. Je nachdem, ob man sie von links oder rechts, oder von gestern oder heute aus betrachtet.
Wohnen – mit 32% Anteil der größte Warenkorb am Verbraucherpreisindex – hat erneut ordentlich zugelegt. Meint man. Meine Wohngebäudeversicherung ist um 4% teuerer geworden. Dafür aber hat meine Hausratsversicherung leicht verloren. Das gleicht sich scheinbar aus. Zins und Tilgung sind stabil geblieben – warum auch ? Klar. Diesen monatlichen Betrag steuere ich selbst. Wenn also mein Löwenanteil von 32% gar keine inflationäre Entwicklung genommen hat, dann müssen andere Körbe prozentual gesehen deutlich mehr zugelegt haben.
Wie wahr, nein wie war, nein wie wäre es hier mit Verkehr ? Der Liter Sprit wurde im letzten Jahr um 8% teuerer, so zumindest sagt es mein privates Fahrtenbuch, der Reifenwechsel um 11%, die KFZ-Versicherung um 2%, das MAXX-Ticket meiner Kinder um 3%.
Freizeit, Unterhaltung und Kultur entwickeln sich, wenn aufgrund der oben genannten gestiegenen Positionen weniger Geld „zum Leben“ bleibt, zwangsläufig nach unten – und korrigiert die Inflationsrate erneut in Richtung Deflation. Da wird also im Kino schnell mal statt der großen Tüte Popcorn die kleine gekauft und bei Burger King gibt es statt des Whoppers nur noch den doppelten Cheeseburger, im Menu, versteht sich, denn dann ist auch gleich noch getrunken. Und am Trinken, so sagte meine Mutter immer, wird nicht gespart. Ob man nun Fast-Food - Food in den Freizeit- oder Kulturbereich zählt, ist eine andere Frage. Aber einmal im Monat zu Burger King, das muss schon sein dürfen. Man gönnt sich ja sonst nichts.
Steigt der Preis einer Brezel von 60 auf 65 Cent, so sind das ebenfalls schlappe 8%. Und von einer Brezel im Monat wird eine Familie nicht annähernd satt. Klar, dann kaufst du eben Vollkornbrot. Da hast du mehr vom Geld. Das ist gesünder. Schmeckt besser. Du isst mehr davon. Und zack – hast du auch hier nichts gespart und nimmst zu, während dein Porte-Monnaie mehr und mehr hungert ...
Möbel und Kleidung werden sicher nicht zwangsläufig teuerer. Aber die Schuhe aus dem letzten Frühjahr passen schon wieder nicht mehr. Der Vorratsschrank ist leer und dann erwischt sie dich wieder, die Wahrheit, die dich ein, nein gleich zwei oder drei Paar Schuhe kaufen lässt.
Prozentual gefühlt steht im Ergebnis das, was wir längst alle denken: Zwei Prozent durchschnittliche Inflation im Jahr reichen längst nicht aus, denn in meinem privaten Warenkorb liegt eine ganz andere Verteilung vor, als in dem, der die Durchschnittsbevölkerung erfasst. Aber bin ich so über- oder unterdurchschnittlich ? Wohl kaum. Rechnet man aus den prozentualen Teuerungsraten auf Euro-Beträge hoch, sind das pro Monat für Lebensmittel, Benzin & Verkehr sowie Versicherung weit über 100,- Euro mehr als im Vorjahr.
Nun will ich mich nicht beklagen. Ich verkrafte sie, diese Warheit. Billig waren die Preise, teuer ist es geworden – das Leben. Die Wahrheit aber möchte ich mit all denen nicht verkraften, die jeden Monat auch eine Brezel, einen Liter Benzin oder eine schnucklig kleine Versicherung kaufen und deutlich weniger verdienen, als ich das tue. Ich frage mich immer wieder, wie „die“ das schaffen, wenn „ich“ das nicht völlig schmerzlos wegstecken kann.
Nein, in meiner Rechnung sind noch keine Krankenkassenbeiträge gestiegen, Schullandheime bezahlt oder Urlaubsreisen gebucht. Glücklich darüber, dass ich mir „das“ alles in Maßen nach wie vor leisten kann, habe ich vollstes Verständnis dafür, dass die Zähne anderer Menschen auch mal schwarz bleiben, das Kind zuhause bleibt oder der Billigflieger nach „Spallorca“ gebucht wird.
Erschütternd indes ist, wie der statistische Wahnsinn uns Konsumenten tagein, tagaus, immer wieder so täuscht, dass wir dies gar nicht wirklich entlarven können. Ein kleines Beispiel hierzu: Ich habe in den letzten drei Monaten als einer von 60 000 Haushalten in Deutschland ein Haushaltstagebuch geführt, das am Ende mehr oder weniger „verwertet“ oder „verwendet“ in Form einer schicken Statistik in einem meiner Schulbücher erscheint: Paare mit Kind oder Kindern geben nach einer Studie aus dem Jahr 2013 mit 1,95% der monatlichen Ausgaben mehr Geld für Bildung aus als Paare ohne Kind – nämlich 67 statt 10 Euro im Monat. So weit. So gut. Seit dem Führen meines eigenen Haushaltsbuchs weiß ich, dass das, was für mich eigentllich Bildungskosten sind, aus statistischer Sicht in diesem Bereich gar nicht erfasst wird. In anderen Worten: Keine Bleistifte, keine Hefte, kein Schulbusticket, keine Deutschlektüre, kein Schullandheim – alles keine Bildungskosten, sondern Unterhaltung, Kultur und Freizeit. Bildungskosten entstehen durch Kosten für Privatschulen oder Weiterbildung. Einbildung ist auch eine Bildung, denke ich mir da. Kostenlos. Wenn es denn so sein soll, okay. Aber - ist dem wirklich so ? Keine Angst, dafür gibt es doch Kindergeld, mit dem all diese genannten Kosten mehr als abgegolten sind. Und das Kindergeld steigt natürlich auch – wenn auch erst ab Mitte des Jahres ...
Vorsicht, Menschheit. Sie kommt die Wahrheit. Holt uns ein – oder überholt uns, wenn sie es nicht längst getan hat. Das Leben ist teuer, nur der Tod ist umsonst und der selbst kostet wiederum auch, wie ein altes Sprichwort sagt, das Leben.
Wahrheit ist nicht, was uns Statistiken oder Nachrichtensendungen vorgaukeln. Wahrheit machen wir selbst. In meinen Warenkorb für unser und euer Jahr 2019 lege ich einen Berg guter Wünsche, Glück, Zufriedenheit und noch ein klein wenig Gesundheit. Mein Warenkorb ist kostenlos – und er bleibt es. Und dennoch ist er kostbar. Kostbarer, als manch andere Wahren-, nein Warenkörbe ...
aus:
RUE – Wirtschaft für Einsteiger
Januar 2019
HIER IST PANAMA
Weihnachten neu erzählt
Dezember 2018
Als der kleine Tiger und der kleine Bär eines Abends vor ihrem kleinen Kamin saßen, fragte der kleine Tiger den kleinen Bär:
„Kleiner Bär, wohin müssen wir eigentlich reisen, um den roten Weihnachtsmann zu treffen ?“ –
„!ch weiß es nicht, kleiner Tiger. Ich habe überhaupt keine Idee, wo wir den roten Weihnachtsmann treffen können. Ich weiß auch gar nicht, ob es ihn überhaupt wirklich gibt. Und schon gar nicht, ob er rot ist“, entgegnete ihm der kleine Bär.
„Das ist aber seltsam, kleiner Bär“, sprach der kleine Tiger. „Jeder tut so, als wisse er nichts. Keiner weiß, ob er etwas weiß und der alte Rücken kratzt mir auch schon gewaltig vor Weißlosigkeit. Aber kleiner Bär. Es muss ihn geben. Und er muss rot sein !“ –
„Warum bist du dir da so sicher ?“ –
„Na schau mal, hier in all den Büchern und auf all den Bildern. Immer hat er eine rote Jacke an, rote Hosen, eine rote Mütze, und zudem trägt er einen weißen Bart. Den gleichen weißen Bart, den er schon letztes Jahr getragen hat. Und vorletztes Jahr. Und vorvorletztes Jahr. Und vorvorvorvorvorvor ...“ –
„Aber kleiner Tiger, wenn der Bart jedes Jahr auf den all den Bildern weiß war, dann muss der Weihnachtsmann schon sehr alt sein.“ -
„Millionen Jahre alt. Oder Milliarden. Oder Willionen oder Williarden. Wir wissen es nicht genau. Aber - aber dann muss er auch ganz weit gereist sein. Und wenn er dauernd unterwegs ist, dann erklärt das auch, warum seine Kleider so rot sind. Rot ist ein Zeichen des Alters. Seine Kleider sind so rot, die bekommt kein Waschpulver der Welt mehr nichtrot.“ –
„Nein, nein, kleiner Tiger. Rot ist nicht die Farbe des Alters. Rot ist nicht schmutzig, rot ist nicht düster. Rot ist die Farbe der Sehnsucht, der Liebe, der Geborgenheit. Rot ist eine strahlende, eine leuchtende, eine warme Farbe. Alles was rot ist, hat Kraft. Auch Herzen sind rot. Herzen haben Kraft. Und die Blumen in unserem Garten. Ich liebe sie, diese roten Blumen. Rote Blumen sind schön. Rote Blumen haben Kraft.“ –
„Aber wenn Rot kein Zeichen des Alters ist, dann weiß der Weihnachtsmann ja auch nicht, was Liebe ist. Und wer nicht weiß, was Liebe ist, der lebt nicht. Dann gibt es den Weihnachtsmann ja doch nicht.“ –
„Ach kleiner Tiger. Das mit dem Alter und mit der Liebe ist nicht immer ganz einfach. Wir werden ihn einfach suchen, den Weihnachtsmann. Und wir werden ihn fragen, wie das so ist, mit dem Alter und der Liebe, und dem Rot. Und so.“
So machten Sie sich auf den Weg, um den Weihnachtsmann zu finden. Sie fuhren mit dem Bus. Gleich nach dort, um die Ecke. Dort war es schön, doch den Weihnachtsmann fanden sie nicht. Dann nahmen sie den Zug und reisten in die nächste Stadt. Dort war es noch schöner, doch den Weihnachtsmann fanden sie nicht. Mit dem großen Schiff querten sie den großen Ozean. Und dort, wo sie wieder an Land gingen, war es noch viel schöner. Aber auch dort gab es keinen Weihnachtsmann. Sie stiegen in ein großes Flugzeug und flogen bis nach Irgendwo. Noch viel viel viel viel schöner war es dort. Aber der Weihnachtsmann ? Den fanden sie nicht. Sie bauten sich Raketen und reisten von Planet zu Planet. Das muss man erlebt haben. So etwas hat man noch nicht gesehen. Keiner weiß, wohin die Reise geht. Nach hier und da und hier und dort und so und überhaupt. Weit weg. Hinaus in die Welt. Nach da, wo es am allervielstenschönsten war. Aber schon gar keinen Weihnachtsmann gab.
Verwundert sprach der kleine Tiger:
„Ach kleiner Bär, das ist alles so traurig. Wir waren überall, aber gefunden haben wir ihn nicht, den Weihnachtsmann.“ –
„Das stimmt, kleiner Tiger. Vielleicht haben wir nur nicht richtig nach ihm gesucht.“ –
„Und was machen wir jetzt ?“ –
"Ich weiß es nicht. Wären wir in Panama, dort würde ich mich auskennen. In Panama, da ist es schön. Das weiß ich. Da war ich schon !“ –
„Ach, kleiner Bär, lass uns umkehren. Wir sind schon seit Ewigkeiten unterwegs. Mein Magen knurrt und dein Magen knurrt und es wird Zeit, dass wir unserer kleinen Hütte endlich wieder einmal „hallo“ sagen.“
Traurig machten sie sich auf den Nachhauseweg. Zuerst mit den Raketen, dann mit dem Flugzeug, dem Schiff, dem Zug, dem Bus und zuletzt zu Fuß.
„Sieh mal, kleiner Tiger“, sprach der kleine Bär „dort vorne steht unsere Hütte. Sie ist nicht weggelaufen. Sie hat auf uns gewartet. So wie damals, als wir nach Panama gingen.“ –
„Jetzt brauchen wir gar nicht mehr nach Panama, kleiner Bär“ erwiderte der kleine Tiger. „In Panama waren wir schon und egal wo wir sonst noch wären, den Weihnachtsmann gibt es nicht. Denn wenn es ihn gäbe, hätten wir ihn gefunden.“ –
„Und weil wir ihn nirgendwo gefunden haben, gibt es ihn auch nicht!“ –
„So ist es, kleiner Bär. Hier bleiben wir. Hier sind wir zuhause. Hier ist Panama!“
Die Tür ihres kleinen Hauses stand einen Spalt weit offen. So, als wäre jemand in ihrem kleinen Haus gewesen, damals, oder erst gestern oder gerade eben. –
„Kleiner Tiger, warum hast du die Tür offen gelassen, als wir damals oder gestern oder gerade eben aus dem Haus gegangen sind ?“ –
„Ich habe die Tür nicht offen gelassen. Das musst du gewesen sein !“ –
„Niemals, kleiner Tiger. Ich habe noch nie vergessen, die Tür hinter mir zu schließen!“ –
Es brauchte schon etwas Mut, den ersten Schritt in ein unverschlossenes Haus zu wagen, vor allem dann, wenn man es Stunden, nein Tage, nein Monate, unbeachtet zurück gelassen hatte. Doch dann fassten sich beide ein Herz und schoben die Tür ganz vorsichtig etwas weiter auf.
„Sieh nur, kleiner Bär. Auf dem Fußboden sind rote Fußabdrücke. Und dort vorne an der Wand hängen rote Sterne. Auf den Möbeln liegt roter Staub und gleich neben dem kleinen Kamin gibt es zwei kleine rote Geschenke!“ –
„Aber kleiner Tiger – ich weiß jetzt, warum wir den Weihnachtsmann nirgends finden konnten. Er war hier. Hier, in unserer kleinen Hütte!“ –
„Ja“, sprach der kleine Tiger, „manchmal muss man gar nicht um die ganze Welt reisen, um das zu finden, was man sucht. Hier ist unser Panama, wirklich, kleiner Bär. Hier möchte ich sein. Und hier möchte ich bleiben!“.
Als die beiden an Weihnachten schließlich neugierig ihre zwei kleinen Geschenke öffneten, strahlten sie vor Freude:
„Sieh nur hier, kleiner Tiger. Der Weihnachtsmann hat mir einen kleinen Tiger geschenkt!“ –
„Und mir einen kleinen Bären!“ –
„Das ist perfekt, das haben wir uns schon lange gewünscht, stimmts, kleiner Tiger ?“ –
„Ja, das stimmt. Jetzt haben wir alles, was wir zu unserem Glück brauchen. Wir wissen, dass es den Weihnachtsmann wirklich gibt. Er wohnt gleich hier, um die Ecke. Oder sogar in unserem Kamin. Und er ist rot. Er ist wirklich rot.“ –
„Vielleicht ist er ein alter Mann, mit einem langen weißen Bart, so, wie auf all den Bildern in all den Büchern. Aber ganz bestimmt ist er rot. Und wir hätten ihn doch gar nicht suchen müssen. Hier, wo unsere weite Reise begonnen und auch wieder geendet hat, hier haben wir zuletzt gesucht. Und gefunden. Es war schön, dort draußen, ja, wunderschön, überall. Aber Panama ist hier. Hier ist Panama. Hier ist Sehnsucht. Hier ist Liebe. Hier ist Geborgenheit! Hier leben wir. Ich habe alles, was ich brauche: Ich habe dich“, sprach der kleine Bär und malte ganz langsam und vorsichtig ein rotes Herz auf den alten, kratzenden Rücken des Tigers .
„Und ich habe dich.“ seufzte der kleine Tiger mit einer kleinen, roten Träne in seinem Auge. „Frohe Weihnachten, kleiner Bär!“ –
„Frohe Weihnachten, kleiner Tiger !“
aus
RUE – Janosch - Weihnachten neu erzählt
Dezember 2018
Angewandte Mathematik und linke Gedanken:
DAS SECHSSTUFIGE FÜNFMINUTENPROBLEM
November 2018
(1) Wenn alle Schulen Firmen wären, konkreter: Wenn jeder Schüler einer jeden Schule in Deutschland zu Beginn einer jeden Unterrichtsstunde auch nur fünf Minuten durch Träumen, Auspacken, Essen oder einfach Nichtwollen vertrödeln und eine vertrödelte Stunde mit 10,- Euro Trödellohn zu Buche schlagen würde, dann würden all diese Schüler in nur einem einzigen Jahr Lohnkosten in Höhe von 10 Milliarden Euro „ver“wirtschaften.
(2) Würde man hingegen die „restliche“ Lernleistungszeit entsprechend positiv gegenrechnen, könnte das Bruttoinlandsprodukt in Deutschland pro Jahr 80 Milliarden Euro höher sein.
(3) Wenn wir nun wissen, dass andere Staaten längst nicht unser Bruttoinlandsprodukt erreichen, dann könnte das unter Berücksichtigung von (2) und (1) möglicherweise ganz einfach daran liegen, dass deren Schüler noch länger brauchen, um zu Stundenbeginn zu träumen, auszupacken, nochmal ins Brot zu beißen und einfach nicht zu wollen – und umgekehrt.
(4) Wir erkennen also, dass es gewissermaßen schon auf die entscheidenden „Fünf Minuten“ ankommt. Wenn wir nun davon ausgehen, dass in vielen Firmen ähnliche Trödelverluste buchhalterisch nicht erfasst werden, können wir uns recht einfach und anschaulich erklären, wodurch eine Wirtschaftskrise tatsächlich ausgelöst wird.
(5) Denkt man am Ende über wirtschaftliche Reformen nach, müssen betriebswirtschaftliche Verschlankungsprozesse demnach lediglich darauf zielen, möglichst viel sinnloses und sinnlos teuer bezahltes Gerede in einer Firma abzuschaffen, statt Arbeitsplätze wegzurationalisieren oder betriebsinterne Abläufe zu verändern und zu glauben, sie wären besser, notwendiger und gewinnbringender. Weiß man nun, dass Gehälter auf höchster Leitungsebene um ein Vielfaches höher sind als Schülergehälter oder Mindestlöhne für einfache Arbeit, dann weiß man weiter, welches Problem wir in diesem Land wirklich haben und warum nie genügend Geld für Schule und Bildung zur Verfügung steht.
(6) Wären Schulen oder einfache Arbeit in Sachen Lohnniveau hingegen höher bewertet, oder würde man Schülern finanzielle Anreize schaffen, ihre Lernzeit eben nicht durch Träumen, Auspacken, Essen oder einfach Nichtwollen zu vertrödeln, sondern effektiver zu nutzen, könnte Schule oder einfache Arbeit rein rechnerisch deutlich wertvoller sein, gewinnbringender wirtschaften und letztlich ein Mehr an Unterricht oder Arbeitszeit für einen klaren Konjunkturschub sorgen.
aus:
RUE – Trödeln ist menschlich –
oder: Wer rechnet schon mit dem Schelm ?
November 2018
THE TIMES, THEY ARE CHANGIN´ - ARE THEY ? - VOLLEYBALL
November 2018
Ich habe es ja schon groß an jede Wand gesprüht. Und jeder hat es gelesen. Einst war ich ein großer Sportsmann. Alle kannten mich, jeder Gegner fürchtete mich. Ich mich auch. Vor mir selbst. Rüdiger, du musst aus den Knien kommen. Baggern, das ist nicht mit den Armen, das ist Bewegung, Eleganz, Präzision. Wer nicht aus den Knien kommt, der kann einen Ball nicht kontrollieren. Vier bis fünf. Der lernt es nie. Aus. Vorbei. Die Karriere. Aus. Vorbei. Die Lust.
Nein, diese Note im Sportunterricht war erst der Anfang. Den Spaß ließ ich mir nicht nehmen. Und ich entwickelte meine eigene Kultur. Volleyball spielen konnte ich nie. Volleyball kämpfen schon. Ich rannte und flog und flog und rannte. Nach links, nach rechts, nach oben, zack, das Netz getroffen, den Gegner k.o. geschlagen. Einer gegen alle. Alle gegen einen. Zwanzig war ich damals. Und ich war mir nie zu schade, mit den Knien den Boden zu putzen und wieder mit Löchern in der Trainingshose nach Hause zu kommen. Und in Wirklichkeit ging es auch überhaupt nicht darum, zu gewinnen. Wir rannten, hatten Spaß und hinterher waren wir fertig. Fertig und glücklich.
Zehn Jahre später war ich Teil einer grandiosen Truppe im Schwarzwälder Dornstetten. Lehrersport. Da war ich wieder. In meinem Element. Ich rannte und flog und flog und rannte. Nach links, nach rechts, nach oben, zack, das Netz getroffen, den Gegner k.o. geschlagen. Gekämpft ja, aber gespielt habe ich längst nicht mehr so gut. Längst trug ich eine Brille, hatte Mühe mit präzisen Schlägen und musste mich irgendwie damit abfinden, dass längst nicht mehr jeder Ball sitzt, dass ich schon längst nicht mehr jeden Ball, der auf mich zuflog, erreichen konnte. Aber in Wirklichkeit ging es natürlich überhaupt nicht darum, zu gewinnen. Wir rannten, hatten Spaß und hinterher saßen wir gemeinsam beim Griechen, hatten unseren Gyros-Teller mehr als verdient und bei einem kleinen Ouzo den verlorenen Bällen nachgetrauert. Stimmt: Wir waren einfach nur fertig. Fertig und glücklich.
Zehn Jahre später war ich längst Vater von zwei kleinen Kindern. Und manchmal fragte ich mich, was wichtiger sei: Sport oder Schlaf ? Längst war ich nicht mehr so präsent, nicht dabei und auch nicht drin. Im Spiel. Jede Ausrede passte, wenn eine Stunde Schlaf zusätzlich möglich war. Aber wenn ich da war, dann war ich da. Voll. Und ganz. Ich rannte und flog und flog und rannte. Nach links, nach rechts, nach oben, zack, das Netz getroffen, den Gegner k.o. geschlagen. Noch immer. Aber das, was vormals nahezu blinde Begeisterung war, was wie ein zwanghaftes „den hast du“-Gehabe wirkte, wurde immer mehr zu weitsichtigem Kalkül. Nein, den bekommst du eh nicht. Nein, der geht sowieso nicht mehr ins Feld. Okay, den hättest du schon noch haben können, aber dazu hättest du dich bewegen müssen. Also gut, der war klar im Feld. Nein, klar außerhalb. Die Sprüche waren längst andere. Die Taktik ebenso. Kräfte sparen. Haushalten. Zwei Stunden Training sind eine lange Zeit. Und außerdem: In Wirklichkeit ging es natürlich überhaupt nicht darum, zu gewinnen. Wir rannten, hatten Spaß und hinterher waren wir fertig. Fertig und glücklich.
Zehn Jahre später spiele ich noch immer. Immer seltener. Aber immer noch. Die Knochen schmerzen mittlerweile schon vorab. Die Wege sind weiter, das Netz hängt längst zwanzig Zentimeter höher und der Ball landet schon gar nicht mehr in meinen Händen, obwohl mir ganz sicher bin, ihn immer wieder dort zu spüren. Da fällt er. Links von mir. Rechts von mir. Vor mir. Hinter mir. Auf den Boden, immer auf den Boden. Ich renne und fliege und fliege und renne. So wie damals. Nur etwas langsamer. Noch langsamer. Mühsamer. Noch mühsamer. Baggern ins Leere, Schläge ins Netz. Asse – Fehlanzeige. Und als Steller ? – Ein Totalausfall. Damals mit 20 hätte ich ihn gehabt, mit 30 wenigstens gekämpft, mit 40 gesehen, ob er aus war oder nicht - und heute ? Ich stehe auf dem Feld. Schmerzen. Nur noch Schmerzen. Schon beim Gedanke an ihn, den Hechtbagger, und beim Anblick dieser, meiner Hose mit Löchern. Das Gespött der Mengen wird größer, das Pfeifen der Zuschauer auf den Rängen auch. Doch den Spaß lasse ich mir nicht nehmen. Und ich lebe sie, meine eigene Kultur. Und mal erhrlich: Geändert hat sich so manches, aber in Wirklichkeit geht es wirklich nicht darum, zu gewinnen. Wir rennen, rennen, solange wir können, haben Spaß und hinterher sind wir fertig. Einfach nur fertig. Fertig und glücklich. Noch immer.
aus
RUE – Im Wandel der Zeit
November 2018
IN VOLLEN ZÜGEN
November 2018
Es muss kurz vor Köln gewesen sein. So ein Fensterplatz war einfach klasse. Und so ein Abteilwagen sowieso. Grünbraune Sitze, gut gepolstert, bequeme Rückenlehnen und Platz genug. Platz für die Beine, Platz für das Gepäck. Aus heutiger Sicht zwar etwas rustikal. Aber ich habe sie geliebt, diese blau-beigen Abteilwagen der damaligen Intercity-Züge. Drei und drei. Auf jeder Seite Platz für drei Reisende. Wer zuerst kam, der saß am Fenster, vorwärts, dann am Gang vorwärts, am Fenster rückwärts und ebenso am Gang. Die mittleren Plätze hingegen blieben meist frei. Zu viert in einem Abteil, das war fast wie reisen in der 1. Klasse. Am Fenster orangefarbene, oft zerknitterte dünne Rolläden, die wir je nach Sonnenstand so weit nach unten gezogen hatten, dass wir gerade noch zwischen ihnen und der Abteilwand durch die schmutzigen Scheiben schauen konnten und die Häuser dieser anderen Welt an uns vorbeirauschen sahen. Irgendwann, nachdem wir die Südstadt hinter uns hatten, sahen wir ihn. Den Dom. Welch ein großes, imposantes Bauwerk, schon aus der Ferne. Und welch ein Leben, welch ein Tumult, welch ein Treiben bei der Einfahrt in den Hauptbahnhof. So saßen wir in diesen vollen Zügen, unterwegs, einmal quer durch Deutschland und zurück. Auf der Suche nach dem großen Erlebnis. Nach dem Kick. Und wir fuhren – hoch und runter. Jeden Tag. Wir fuhren von Nord nach Süd, von Ost nach West, und wenn es heiß war, öffneten wir die Fenster. Das war noch möglich, damals. Raus den Kopf, einmal tief durchgeatmet. Das war sie, die weite Welt. Das war er, der Geruch der Schienen, der längst abgestellten und grau verstaubten Dampfloks, der anonymen Massen, der pulsierenden Großstädte. Fast so, als wären sie alle Zigaretten, die wir um jeden Preis rauchen mussten. Welch ein Leben ! Und wir genossen es, in vollen Zügen !
Unterhalb der Fenster gab es diese kleinen Klappbrettchen, die genau reichten, um die obligatorische Packung Butterkekse abzulegen und die geliebte, ebenfalls orangefarbene Mirindadose abzustellen. Ich weiß nicht mehr wirklich, wie versifft diese Lieblingsjeans längst war. Aber ich habe sie geliebt, hätte sie für niemand und nichts hergegeben und nur wenn es wirklich nötig war, flog sie in die Wäsche. Oben trugen wir Poloshirts. Meist gestreift, gegen den Dreck. Blau-weiß-hellbraun und wieder blau-weiß-hellbraun. Nicht wirklich modern, aber praktisch waren sie auf jeden Fall, diese Kleider. Und dann packten wir ihn aus. Den ultimativen neusten Schrei, den wir damals alle hatten, ja unbedingt haben mussten. Den Walkman mit Kassettenteil. Grundig. In hellbraun. Mit Lederetui. Und je größer der Kopfhörer, desto cooler waren wir. Batteriebetrieben, nicht aufladbar, aber volle Leistung – und volle Geschwindigkeit. Schnell liefen sie, die Dinger, und gerockt haben sie - zumindest solange die Batterien voll waren ... Gehört haben wir Deutschrock. Oder zumindest nannten wir es so. Nemm mich mit, einfach mit, irjendwohin, wohin weiß isch nit ... Wir schrieben das Jahr 1983, ich war 15, und BAP hatten gerade ihr erstes Livealbum „Bess demnähx“ veröffentlicht, auf dem mehrere neue Songs zu finden waren, unter anderem eben auch dieses Stück. Wir liebten es und wir sangen es. Wieder und wieder. In vollen Zügen ...
Satte 35 Jahre später, am 2. November 2018, erschien dieser Titel, den ich mir damals als „Soundtrack meines Lebens“ auserkoren hatte, erneut auf einer Live-CD der Kölner Band. Dieses Mal mit Gebläse. Manchmal musste ich aufpassen, dass ich sie nicht aus den Augen verlor, diese Band. Die Züge fuhren schneller, und auch die Uhren brauchten für die Stunde, für den Tag, für das Jahr, nicht mehr so lange, wie das früher einmal war. Den geliebten Walkman gibt es indes längst nicht mehr - und eine Kassette ? Meine Kinder wissen schon gar nicht mehr, was das ist ... Der Abteilwagen wurde längst durch sterile Großraumwagen abgelöst und offene Fenster im Zug sind mittlerweile aus Sicherheitsgründen tabu. Längst habe ich ihn, den Abteilwagen, gegen ein Auto eingetauscht. Polohemden sind zwar hin und wieder trendy, aber wer ein solches trägt, fällt eher auf. Selbst die Jeans kommen heute, da wir endlich erwachsen sind, ein paar Tage früher in die Wäsche. Und statt Mirinda trinken wir längst Johannisbeerschorle.
Heute Morgen stand ich an der großen Kreuzung in Richtung Norden, und gerade als ich am Abbiegen war, fing er an zu singen. Mein Lied. Der Held meiner Jugend. Nemm mich mit, einfach mit, irjendwohin, wohin weiß isch nit ... Das alte Tonwerk zu meiner Rechten war plötzlich der Kölner Dom, die Scheinwerfer der Autos, die mir entgegen kamen, wurden zu Großstadtlichtern und ein jedes von ihnen war plötzlich wieder blau-weiß und fuhr auf Schienen. Ich drehte den Regler nach rechts, ganz weit nach rechts. Und es rockte und groovte, noch lauter und besser als damals. Für einen Moment war ich am Träumen, für einen Moment war ich wieder 15 und neben mir lagen sie, die Südstadt und der Hauptbahnhof. Unfassbar, wie die Zeit vergeht. Unfassbar wie sie bleibt, die Erinnerung. Da war er wieder, der Soundtrack meines Lebens. Retro. Und ich genoss ihn. Ich genoss diesen Augenblick. In vollen Zügen ... aus:
RUE – Erinnerungen
November 2018
PLATTFORMEN UND BEKENNTNISSE
Oktober 2018
Nun bin ich doch platt. Völlig. Geplättet. Ein Platt vor den Mund. Man will uns also ein Platt vor den Mund halten. Noch unglaublicher, noch plättender, dass da irgendwer tatsächlich auf die Idee kommt, diese Partei wolle uns den Mund verbieten. Unglaublich, dass da jemand denkt, sie wolle uns kontrollieren, die Partei. Ah ! Eff ! Deh ! Welch Schmährufe in einer bunten Republik.
Naiv zu glauben, dem wäre so. Eine Plattform gegen rechts. Eine gegen die, die rechts sind, oder auch dagegen. Und noch eine. Diesmal gegen links. Gegen die Mitte. Gegen hier und gegen da. Gegen Vieles oder Manches. Gegen den Weltatlas, gegen Pythagoras. Gegen irgendetwas. Hauptsache dagegen. Nicht dafür. Aber konsequent, äußerst konsequent. Welch ein Slalom.
Gerade stelle ich mir vor, wie es wäre, wenn einer meiner Schüler rufen würde „Kamuf, setzen ! Ich melde sie !“ . Herrlich. „Ja, das ist eine gute Idee“, würde ich sagen. „Melde mich ! – Aber pass auf, dass du keine Rechtschreibfehler machst. Das wäre nicht deutsch. Das wäre peinlich. Pass auf, dass du ihn richtig schreibst, meinen Namen. Groß. An jede Wand. In großen Großbuchstaben: KA – AH – EM – UH – EFF ! Oh, hoppla, Vorsicht, da stimmen schon zwei Buchstaben überein. Den dritten schaffen wir auch noch“ – Ja, melden wäre gut, würde ich mir denken. Wer SICH schon im Unterricht nicht meldet, der soll wenigstens MICH melden. Nicht schlecht. Es wäre der erste Schritt einer großen politischen Karriere. Über den Tellerrand. Ich wäre einer. Ich wäre bekannt. Staatsfeind Nummer eins. Man hätte meinen Namen, und man wüsste, dass ich einer wäre, der dagegen ist. Noch einer. Und wieder. Dagegen.
Herrlich, ja es wäre herrlich, wenn nach wenigen Stunden nahezu eine Million Namen auf dieser Plattform zu finden wären. Alle gemeldet. Nicht freiwillig. Kein Geständnis. Nein. A-lles f-alsche D-eutsche. AfD eben. Herrlich, ja es wäre herrlich, wenn wir alle, unmittelbar, beurlaubt würden und unseren Dienst nicht mehr antreten dürften. Verlängerte Ferien und schon wieder das von jenen kritisierte Missmanagement in Sachen Stellenplanung im Bildungssektor.
Kern des Erziehungs- und Bildungsauftrags ist zunächst die Erziehung junger Menschen zu Bürgern, welche die Werte einer breiten Demokratie schätzen und lieben lernen, sich zu ihnen bekennen und letztlich für sie eintreten. Und dazu gehören sie alle. Alle Parteien, mit egal wie vielen Buchstaben. Demokratie ist Vielfalt, egal ob mit oder ohne. Demokratie ist, das Andere auszuhalten, das Wahre zu erkennen und sich für das einzusetzen, wovon man überzeugt ist.
Ziel des Erziehungs- und Bildungsauftrags ist weiter, die künftigen Wähler unseres Landes zu mündigen und vor allem kritischen Bürgern zu erziehen. Manchmal denken wir, dies sei unendlich schwer, womöglich nicht erreichbar. Weit gefehlt. Keiner von uns hat es nötig, sich massiv gegen eine Partei auszusprechen. Ich bin nicht dagegen. Ich bin dafür. Ich bin für das, wovon ich überzeugt bin. Ich trete für das ein, was ich gut finde. Ich stehe dazu. Und ich sage es.
Meine Schüler brauchen keinen Lehrer, der über diese oder jene Partei schimpft. Meine Schüler haben Augen. Sie können sehen. Sie haben Ohren und können hören. Und sie können lesen. Drei Dinge, die absolut ausreichen, um kritisch über politische Leitlinien diverser Parteien nachzudenken und letztlich zu wissen, welche Partei sie wählen. Ich halte ihnen klein Platt vor den Mund. Und ich möchte auch nicht, dass man mir ein Platt vor den Mund hält.
Im Dialog entsteht Meinung. Ihn zu fördern, sehe ich als meine Aufgabe. Überparteilich, ergebnisoffen. Und dennoch bin ich politischer Mensch, ein kritischer Wähler, der eine Meinung hat, diese hinterfragt und sich bei Bedarf neu positioniert. Ich wäre dankbar, wenn ich dies auch weiter tun dürfte – auch dann, wenn ich doch eines Tages auf dieser Plattform gemeldet sein werde.
aus:
RUE – Dafür ist nicht dagegen.
Oktober 2018
SCHEIN UND SEIN
August 2018
Dort oben ist die Welt sauber. Frisch poliert glänzt ihr Lachen. Geschniegelt und gestriegelt, in feinen Anzügen mit weißen Hemden und Krawatten werden große Geschäfte gemacht. Man begrüßt sich nicht von Herzen, aber förmlich, loyal und selbst wenn man dem Kollegen von nebenan gerne mal die Wahrheit sagen würde, reicht es immer noch für ein schmerzloses kurzes „Mahlzeit“. Kein Mittagessen ohne Serviette, kein Spaziergang ogne Aktentasche und keine Minute im Park ohne diesen gestressten Blick auf das Smartphone. Der Wagen hat hundertfünfzig PS, mindestens, oder mehr, und spätestens bei der nächsten Weihnachtsfeier treffen sie sich doch wieder in der anderen Welt. Dann saufen sie wie die Löcher, reißen Witze, über die seit Jahren keiner mehr lacht, und wenn es keiner merkt, wird stillschweigend um die nächste Ecke gepupst und im Vollrausch an den nächsten Baum gepinkelt.
Hier unten ist die Welt schmutzig. Schmutzig, das wollen sie alle mal sein. Sich gehen lassen. Einmal im Jahr. Oder zweimal. Die „Fünfte Jahreszeit“, Karneval. Das ist doch die Woche, in der sie plötzlich alle nicht mehr wissen, ob sie verheiratet sind oder nicht. Sechste Jahreszeit. Urlaub am teuren Strand in Gottweißwo. Unter Palmen zwischen Tequila und Sunrise. Und dann mal so richtig. Und zwar richtig.
Wir leben manchmal zwischen Extremen. Wir suchen sie, die Ordnung, die Struktur, die heile Welt. Und verlassen ihn dann wieder, unseren Weg, und sind eben nicht mehr der, der wir sind. Eigentlich sind wir dann ganz anders. Wir sind so, wie uns keiner kennt. Zumindest so, wie wir nicht wollen, dass man uns mit sauberen Augen in dieser sauberen Welt sieht.
Das aber ist sie nicht, die Welt hier unten. Der Kontrast ist ein anderer. Hier macht man sich nicht schmutzig. Hier ist man schmutzig. Einfach. Bescheiden. Kreide malt Hemden weiß. Edding malt Geschichten auf die Finger. Hier arbeitet und lebt man von Herzen. Und hat Freude daran. Aus einem schnöden „Mahlzeit“ wird ein warmes „Moin“. Aus dem vernichtenden Blick zur karrieregeilen Kollegin wird ein „gemeinsam schaffen wir das“. Hey, hier unten hat man Spaß an dem, was man tut. Hier unten muss man sich diesen Spaß nicht erst wie in einem teuren Freizeitpark generieren. Hier ist es einfach einfach. Hier bist du Mensch. Ein Mensch, der so ist, wie er ist. Und der ankommt. Ohne Anzug, ohne Hemd und ohne Krawatte. Oder noch einfacher: Meine hundertfünfzig PS sind ein kleiner roter Citroen C3. Er stottert manchmal, aber er fährt.
Ob mir etwas fehlt, hat man mich neulich gefragt. Ob ich gerne tauschen wollte. Nein danke. Hier scheine ich nicht, hier bin ich. Und hier bleibe ich.
Meine fünfte und sechste Jahreszeit hat gestern begonnen. Nach all den Wochen habe ich wieder meine Brille abgesetzt. Gestern. Die Welt mit anderen Augen sehen. Dankbar sein, in dieser anderen Welt leben zu dürfen. Nach drei Nächten unter freiem Himmel auf meiner Terrasse tut mir heute mein Kreuz weh. So richtig. Aber ist es nicht ein geiles Gefühl, nachts Katzenpfoten auf den Wangen zu spüren und morgens unter Pfirsischen aufzuwachen ? Dort bin ich und dort bleibe ich, zumindest in den nächsten drei Wochen. Musik klingt in meinen Ohren, Züge fahren wieder im Kreis, der siebte Schlag beim Minigolft trifft, endliich, und sogar Skatspiele werden endlich wieder gewonnen und dafür, ob die letzte Gelenkstelle drei Minuten vor dem Läuten noch klappt, interessiert sich jetzt erst mal niemand.
Ihr dort draußen, lebt und liebt diesen genialen Sommer – ich verschwinde erstmal für geraume Zeit auch aus dieser virtuellen Welt. Ohne Brille postet man nicht wirklich gut und bevor ich diese Menschen mit Krawatte noch als solche erkenne und wieder nur fragend den inneren Kopf schüttle, lass ich sie erstmal unten ...
aus:
Alles eine Frage der Perspektive
RUE- August 2018
HEIMATABEND
Juli 2018
Schon wieder: „Siesch denn do driwwe, Rennade ?“ – „Ha jo, Ernoa, denn schnabbe ma uns!“ - „Siehst du den da drüben, Renate ?“ – „Ja, Erna. Den schnappen wir uns.“ - Vorsichtig drehte ich den Kopf zur Seite. Nach links. Nach rechts. Niemand. Da war niemand außer mir. Zumindest keiner, der mir hätte die Show stehlen können. Ich, Anfang Fünfzig. Renate und Erna mindestens, allermindestens Mitte 80 – oder sogar darüber. Aber rüstig. Rüstig, was das Zeug hält. Und rotzfrech. Mich schnappen. Diese zwei alten Schachteln. Mich ? Schnappen ? Unglaublich. Die nächste kam von halblinks. Ob wir den Platz tauschen könnten, fragte sie mich. „Ach, ich sitze hier ganz gut. Aber wenn Sie möchten, dann nehme ich Sie auf den Schoß!“ – Das musste ich ihr nicht noch einmal sagen. Schwupp. Ach herrje. Das waren nicht nur ein paar Kilo zuviel ...
Heute war Heimatabend im Altenheim. Einmal im Monat. Sie kamen zusammen. All die, die noch laufen konnten, oder zumindest sehen, nein wenigstens hören. Schon wieder: „Den schnappen wir uns!“ – „Ja, den schnappen wir uns, Renate!“. Mich schnappt keine. Und schon gar nicht in diesem Alter. Also in diesem ihren Alter. und dann dieses Grinsen ... Eins muss ich ihnen lassen: Sie hatten sich ganz schön rausgeputzt für diesen Abend. Immer putzen sie sich für solche Anlässe raus, denn das, was mir reichlich fremd war, ist für sie mehr oder weniger die große Chance. Frischfleisch. Endlich wieder Frischfleisch. Was sind schon dreißig Jahre Unterschied, mochte man denken. Beim Schnappen ist das egal. Absolut egal. Und ein abgehangenes Stück Fleisch mit etwas Paprika liefert im Gegensatz zu jungem Frischfleisch seinerseits – in diesem Fall natürlich ihrerseits - eine solide Grundlage für ein gutes Gulaschgericht ...
Zunächst war es noch einmal gut gegangen. Das Programm begann, ein Stück auf der Geige, eine erste Geschichte über die Zeit und wie es damals war. Früher, als das alte Kino noch stand, das Freibad vom Sturm zerstört wurde oder Deutschland anno 1954 mit dem Gewinn der Fußballweltmeisterschaft endlich wieder wer war. Plumpsklos. Badetage. Improvisierte Krankenhäuser. Ich lauschte diesen Worten gebannt. Selbst mein Vater, der im Raum neben mir saß, verfolgte die Erzählungen mit Spannung und, als wäre es noch nicht genug Nostalgie gewesen, wurde in der Pause selbst zum Erzähler. Die Zeit nach dem Krieg, in der es noch keine Waschmaschinen gab. Als man seine Dreckwäsche auf dem Leiterwagen gebündelt in Richtung Wäscherei zog. Und wer kein Stück Holz zum Feuern dabei hatte, der durfte – da war man hart - seine Wäsche nicht waschen.
Unglaublich, wie schnell die Jahre vergehen. Wie rasant sich Technik entwickelt und mit welcher Bequemlichkeit und Selbstverständlichkeit wir heute im Großen Saal saßen und über ein Mikrofon verstärkte Anekdoten von früher zu hören bekamen. Schon wieder: „Siehst du den da drüben, Renate ?“ – „Ja, Erna. Den schnappen wir uns.“ – Allmählich wurde mir die Sache etwas unheimlich. Schließlich wollte ich den Abend nicht kippen, nicht einmal stören oder im Notfall gar handgreiflich werden. Klar war aber, dass die beiden zu zweit waren – und 50 Jahre gegen 160 eigentlich nicht wirklich eine Chance hatten.
Es war ja nicht meine Idee, hierhin zu kommen. Aber wenn die eigene Tochter auf der Geige vorspielt, dann machst du das schon mal. Und eigentlich war es unendlich romantisch, im Halbdunkel zwei Meter vor der Bühne zu sitzen und so zu tun, als wäre der Saal ausverkauft, als würde vor dir Mick Jagger „Brown Sugar“ singen. Tat er natürlich nicht. Aber aufgefallen wäre er hier sicher nicht. Und wäre er auf der Bühne gestanden, dann hätte es für Renate und Erna eine echte Alternative gegeben.
Nach der letzten Geschichte vor der Pause kamen sie näher. Noch immer kein anderer Mann weit und breit, auf den sie es hätten absehen können. Klar, ich war recht gut erhalten für mein Alter, aber ich für meinen Teil hatte es nicht so mit Kukident und 47-11. „Siehst du den da drüben, Renate ?“ – „Ja, Erna. Den schnappen wir uns.“ – Allmählich war es an der Zeit, einen Plan zu schmieden. Der Notaus. Wo war er ? Welchen Knopf sollte ich drücken, um das Schlimmste zu verhindern ? Mir stand der Schweiß auf der Stirn. Und ich wusste nicht, ob es die Scheinwerfer im Raum oder die Hormone waren. Ihr Lachen kam näher. Näher. Mit jedem Schritt kam es näher. Bis es breit grinsend vor mir stand. „Derfe mir do mol fabei, do vorne denn Schduhl, denn breechde mir mohl. En unsam Alda schdehd ma nimmieh sou lang !“ – Moment mal. Dachte ich völlig irritiert. Die wollten doch ...
Nein, die wollten gar nicht. Die wollten gar nicht mich ? Den Stuhl ? Nur diesen kleinen, blauen Stuhl neben mir ? – Wie konnte ich nur so einfältig sein und glauben, sie hätten es auf mich abgesehen ... Im Alter bringt man offenbar so manche Dinge durcheinander. Und ich wusste in diesem Moment, dass ich nicht mehr der Jüngste war. Der Abend jedenfalls hatte auf diese Weise eine weitere, nein seine ganz eigene Geschichte. Und vielleicht wird man sie sich in einigen Jahren beim nächsten Heimatabend mit einem Schmunzeln erzählen ...
aus:
Halbwahre Geschichten, die das Leben schreibt.
RUE – Juli 2018
DIE FALLE UND DAHINTER
Juni 2018
Nein. Ein Verschwörungstheoretiker bin ich nicht. Das Leben ist Fiktion. Diese Geschichte ist Fiktion. Aber wir wissen längst nicht mehr genau, wie weit wir von ihr entfernt sind.
Da steht sie also. Blau. Elegant. Schlank. Reizend. Klick. Die Falle. Da hätte man auch früher drauf kommen können. Was hätte sie Geld gebracht, in all den Jahren, seit ich hier lang fahre. Seitdem es sie gibt, achte ich weit mehr auf mein Äußeres. Ich kämme mich seither. Morgens. Bevor ich zur Schule fahre. Man weiß ja nie, ob und wann man dran ist. Ich bemühe mich sogar zu lächeln. Freundlich zu lächeln. Ganz so einfach ist das nicht. Zumindest nicht immer.
Letzte Woche hatte ich etwa achtzig auf dem Tacho. Und habe gebremst. Für sie. Nur für sie. Was war das für ein Hupkonzert. Wilde Gesten. Mittelfinger. Kopfschütteln. Seltsam. Am Tag zuvor, hatte mich einer mit hundertzwanzig überholt. An dieser Stelle. Passiert ist nichts. Ihm nicht. Mir nicht. Und ihr auch nicht. Aber an diesem anderen Morgen war der Ärger groß. Fast hätte es mich erwischt. Fast hätte sie mich erwischt. Oder ihn. Vielleicht auch uns beide. Die Falle.
Ob sie an dieser Stelle wirklich gut steht ? Ich habe meine Zweifel. Dreißig Meter hinter dem Schild. Kurz vor der Ausfahrt. Da, wo es eigentlich wirklich egal ist, wie schnell du bist. Weiter vorne, am Beschleunigungsstreifen, an der Einfädelspur – dort wäre der richtige Ort. Ich frage mich, wer sich dabei wohl was gedacht hat. Ich finde keinen. Nein, ich finde keinen, der sich überhaupt etwas dabei gedacht haben könnte.
Ob das eigentlich sein darf ? Ein Foto, von mir, so früh am Morgen ? Da war doch etwas mit neuen Datenschutzrichtlinien ... Zugestimmt habe ich diesem Foto jedenfalls nicht. Zumindest weiß ich nichts davon.
Die Falle. Und das, was dahinter steckt. Nein. Es geht doch gar nicht um mich. Nicht speziell um mich. Nicht um mein Foto. Nicht um das Bußgeld. Wenn es blitzt, dann haben sie wieder einen. Dann sehen sie es wieder: das Haargel von Taft, die Zahnpasta von Blend-a-med, ein Hemd von Lerros, Kaugummi, Lutschbonbons und grünen Salat. Genau das ist es. Genau hierfür habe ich Werbung. Immer. Und überall. Ein Flyer im Briefkasten. Ein dreifach gepolstertes Kuvert. Eine Anzeige auf Ebay. Ein Hintergrundbild auf meinem virtuellen Kontoauszug. Und jetzt endlich wird mir klar, warum. Blau, elegant, schlank. Sie ist keine Geschwindigkeitskontrolle. Sie ist Überwachungskamera. Oder ein Stück noch mehr Transparenz. Die Grenzen verschwimmen.
Seit 1984 sind ein paar Jahre vergangen. Es läuft so ähnlich ab. Nur unauffälig. Und viel raffinierter gemacht. Sie wollen es wissen. Alles wollen sie wissen. Und sie wissen es. Alles. Alles über dich wissen sie. Du bist Teilnehmer am Marktgeschehen. Eben. Er geschieht, der Markt. Und du nimmst teil. Aber steuerst du ? Steuerst du dieses Auto wirklich noch selbst ? Und in welche Richtung ? Elektronischer Personalausweis. Mit Online-Funktion. Bald auch für Kinder. Ab 12. Warum ? Wer braucht das ? Wer will das wissen. Und wozu ? Eine Falle ? Und dahinter
Nein. Ein Leben in Freiheit kann man nicht mit einem Passwort schützen. Aber es existiert, das Passwort. Und ich wähle es. Selbst. Vielleicht „Vorsicht!“ oder „AAchtung“. Mit Doppel-A. Das knackt keiner. Was es nützt ? Ob es nützt ? Ich weiß es nicht. Was also wäre konsequent ? Eine andere Farbe ? Ein anderer Standort ?
Vordergründig ist sie eine faire Sache. Dieses Blau, direkt neben der Leitplanke, das musst du erkennen. Man hätte sie auch grün getarnt hinter diesen Büschen verstecken können. Nein. Das wäre unanständig. Du darfst den Teufel schon sehen, ehe er dich auslacht und nach unten befördert.
Der Umgang mit dieser Geschichte fällt mir nicht leicht. Aber ich trage mich zumindest mit dem Gedanken, mittags in Zukunft eine andere Strecke zu fahren. Denn wenn sie mich eines Tages eine Stunde früher blitzen würde sonst, käme dahinter noch einer auf die Idee, dass es Hitzefrei gegeben haben könnte.
Nein. Ein Verschwörungstheoretiker bin ich nicht. Das Leben ist Fiktion. Diese Geschichte ist Fiktion. Aber wir wissen längst nicht mehr genau, wie weit wir von ihr entfernt sind.
aus:
Kamuf, sei achtsam !
Juli 2018
BROT UND SPIELE UND JOGI UND ICH
Die etwas andere Analyse
Juni 2018
Ich frage mich noch immer, warum er mich nicht angerufen hat. Ich war im Trainingslager in der Lüneburger Heide. Mit meinem Sohn. Warum ich mich nicht anstrenge, hat er mich gefragt. „Ich strenge mich dann an, wenn mich Jogi Löw anruft !“. Er war verblüfft. Kein Anruf kam, also strengte ich mich nicht an.
Ob es etwas geändert hätte, ich weiß es nicht. Aber eine Alternative wäre ich gewesen. Was wird da in den Medien alles geschrieben, was er offensichtlich falsch gemacht haben soll. Ich war motiviert. Ich hätte gefightet. Gekämpft. Mir das Hemd zerrissen. Für Deutschland und die Nationalhymne. Für meinen Präsidenten. Aber er hat sich nicht gemeldet. „Vielleicht hat er ja deine Nummer nicht, Papa !“ – Ausreden, alles nur Ausreden.
Wir müssen ehrlich und fair bleiben. Es waren nur ein paar Zentimeter. Auch wenn es nicht verdient gewesen wäre. Aber die Welt wäre dann in Deutschland sicher eine ganz andere gewesen. Kroos – Latte. Brand – Pfosten. Mensch, wenn die Dinger reingegangen wären. Der Jubel wäre grenzenlos gewesen.
War er nicht. Konnte er auch nicht. Die Spieler waren satt. Deutschland war satt. Andere dürfen auch mal gewinnen. Müssen auch mal gewinnen. Und das Fußballvolk sah das auch so. Wo waren sie, die Fahnen an den Autos, die schwarz-rot-golg geschminkten Gesichter, die Deutschlandtrikots mit den neuen Helden ? Ich habe nur alte Trikots gesehen, Hemden von alten Männern: Klose, Schweinsteiger, Lahm – neue Namen Fehlanzeige.
Nein Jogi Löw hat nicht alles falsch gemacht. Aber eben auch so manches nicht richtig: Eine Aufstellung, die Pässe mit unbekannten Adressaten mit nicht frankierten Bällen in längst markierte Zonen spielt, das war sicher zu wenig. Ein Grund für einen Rücktritt ist das aber lange nicht. Ja, das Volk schreit. Endlich. Verlierer brauchen Opfer. Und Opfer Nummer eins scheint wie so oft der Trainer. Der deutsche Fußball hat Jogi Löw immerhin viel zu verdanken. Vielleicht hat er sich verzockt – aber haben sie alle für ihn, für uns gekämpft, haben sie wirklich gewinnen wollen ? Es war nur schwer zu erkennen und oft sah es nicht so aus. Deutsche Arroganz. Vielleicht. Abwehrfehler. Vielleicht. Aber wer kein Tor schießt, der kann kein Spiel gewinnen. Und wenn der Abwehrspieler die einzigen Chancen des Spiels hat, fragt man sich, wo eigentlich welcher Stürmer auf dem Platz stand.
Ja, es war dieser winzig kleine Fehler, mich nicht anzurufen. Ich hätte gespielt. Links, rechts, vorne, hinten, im Tor. Und den Text der Nationalhymne ? Ich hätte ihn gekonnt.
Was bleibt ist Zeit. Plötzlich haben wir wieder Zeit und können uns um andere Dinge kümmern. Was ist eigentlich wichtiger ? Merkels Regierungskrise, die Wahlen in der Türkei oder das Vorrundenaus bei einer Fußball-WM ? Das Volk braucht Brot und Spiele. Schon immer. Brot gibt es zur Genüge. Die Spiele sind vorbei. Nun heißt es Vorsicht: Der Löwe brüllt nicht nur. Er beißt. Und vielleicht frisst er sogar. Mit einer Fußball-WM im Rücken, mit einem weiteren Stern auf der Brust, hätten wir gar nicht mitbekommen, dass es zwischen Merkel und Seehofer brodelt. Holzauge sei wachsam. Nun kommt es, das Sommerloch. Und wenn es nichts mehr zu sagen und zu schreiben gibt, braucht man weitere Opfer. Jogi raus ? Merkel raus ? Nein. Aber das Augenmerk der Öffentlichkeit wird in den nächsten Tagen und Wochen wieder auf andere Themen gerichtet sein. Und davor sei gewarnt.
Ich bin nun fünfzig. Vielleicht zu alt für Jogis Jungs. Aber wenn er mich anruft, dann werde ich trainieren und meine kleine Chance auf einen Stammplatz beim nächsten WM-Team wahren. Und wenn er, wer auch immer, nicht anruft, dann wissen wir bereits heute, wer in vier Jahren nicht Weltmeister sein wird.
aus:
Kamufs Kolumne
Juni 2018
DER KAISER VON CHINA
Mai 2018
Es gab sie. Die magischen Momente. In meiner Kindheit. Einige davon sogar in der Schule. Was freuten wir uns auf den Tag, an dem sie „Wir gehen heute in den Filmraum!“ rief. Nein, das passierte nicht täglich. Immer wieder mal, sehr dosiert eingesetzt. Und wir verschlangen ihn. Diesen Film. Jeden Film. Dunkel war es in diesem Raum. Die Fenster konnten mittels Rollo so abgedunkelt werden, dass außer dem Film nichts, aber auch gar nichts mehr zu sehen war. Tische gab es keine in diesem Raum. Nicht schlecht. Nichts schreiben. Endlich nichts schreiben. Einfach nur schauen und am Rattern des Projektors merken, dass der Moment echt war. Kino. Kino in der Schule. Klasse war das. Ab und zu passierte es – und wir wussten, wir hatten gewonnen: Er riss, der Film. Er musste frisch eingefädelt werden. Und das kostete Zeit. Viel Zeit. Genug Zeit, dass die Stunde gelaufen war. Das kapierten wir sogar schon in der ersten Klasse. Die Helden des Films: Karius und Baktus. Oder: Wie du deine Zähne richtig putzt. Nachhaltig war er nicht, der Film, denn die Zähne sind längst kaputt. Viel zu früh. Und von vielen von ihnen habe ich mich längst verabschiedet. Aber er war der Hammer, dieser Film. Und wir gingen stolz nach Hause. Und erzählten davon. Und wir merkten uns, um was es ging. In diesem Film. Der große Moment war stets, als wir am Ende des Film „Rückwärts, rückwärts, rückwärts!“ riefen. Und ab und an tat sie uns den Gefallen. Man konnte den Film tatsächlich rückwärts laufen lassen. Ohne Ton. Aber das machte nichts. Krass, am Ende waren die Zähne wieder wie neu und ich hatte verstanden: Putzen brauchst du die nicht.
Neulich haben wir im Unterricht den Kaiser von China behandelt. Mit Filmen brauchst du da nicht mehr kommen. Filme – die laufen täglich. Zwar nicht rückwärts, aber immerhin. Und wenn sie dir zu langweilig sind, dann drückst du sie weg. Ein Kinderspiel. Ein Ausflug nach China – in einer globalisierten Welt eine kleine Sache. Das wäre es gewesen. Ein Ausflug nach China. Aber was nützt dir ein Ausflug nach China, wenn der Kaiser gerade wieder auf Staatsbesuch in anderen Ländern ist. Also brauchte ich andere Idee. Ich habe ihn eingeladen. In meinen Unterricht. Und er kam. Krass. Ein wenig nervös war ich schon, war mein chinesisch doch nicht wirklich exzellent. Eine Brezel mit Stäbchen in der Pause – ich weiß nicht. Wasser. Mit Wasser kannst du nicht viel falsch machen. Wenn du es nicht gerade mit Stäbchen servierst. Erwartet hatte ich einen Mann mit Krone, in feinen Kleidern, mit Trara und Tätä. Weit gefehlt. Ein einfacher Mann betrat das Klassenzimmer und ich war gespannt, was alle zu fragen hatten. Ja, ich war gespannt. Und gespannt und gespannt. Und gespannt. Also wirklich gespannt. Wir fassen zwischenzeitlich zusammen: Der Kaiser von China ist besser als Mathe, aber er reißt nichts. Im Klassenzimmer war es warm und gemütlich, alle hatten gegessen und einigen steckte noch das letzte Wochenende in den Knochen. Die STühle standen im Halbrund. Chill-out-Atmo vom Feinsten. Man hätte ihn schon verstehen können, den Kaiser. Chinesisch ist gar nicht so chinesisch, wie es manchmal scheint. Aber man hätte ihn verstehen wollen sollen. Und das mit dem „wollen sollen“ war so eine Sache. Zu früh am Morgen. Nun. Er erzählte von damals und heute, von früher und jetzt, von hier und da, ein wenig blabla, manchmal auch blublu und so. Anton schlief mittlerweile. Paule schaute aus dem Fenster. Und Harry verabredete sich per „whats-app“ für die große Pause.
Da war er wieder. Der magische Moment. Jetzt, Jahre später. Karius und Baktus – was waren sie klasse. Das hatten wir nicht alle Tage. Der Kaiser von China. In meinem Unterricht. Stundenlang hätte ich ihm zuhören können. Und wenn ich etwas nicht verstand, dachte ich an damals. Rückwärts. Ja. Der redet bestimmt rückwärts.
Magische Momente funktionieren wohl nur, wenn du sie zulässt, dachte ich mir. Wenn du offen bist für den Zauber. Und wenn du es erkennst. Das Besondere.
Ich weiß nicht, wie diese Stunde wirklich war. Was ankam bei ihnen. Was sie berührte. Ob sie überhaupt etwas berührte. Möglicherweise war Einsteins Urenkel erst letzte Woche im Pysikunterricht zu Gast. In Deutsch vielleicht der Dativ oder der Nominativ persönlich. In Musik könnte es sogar der Akusativ gewesen sein. Oder Mozarts Perücke. In Mathe der Leichnam von Pythagoras (ja, alter Spruch, ich weiß, aber damit habt ihr nicht gerechnet). Vielleicht war es einfach zu viel an diesem Tag. Wahrscheinlich war es zu viel. Insgesamt. Und überhaupt.
Als ich die Schüler am nächsten Tag fragte, wie sie den Besuch des Kaisers von China fanden, schauten sie mich völlig entgeistert an: Das war der Kaiser von China ? Hätten wir das gewusst, dann ... – Dann was ? – Dann wären einfach zuhause geblieben. Der Kaiser von China, Herr K., der reißt nichts. Also zumindest ... Übrigens, Herr K., können wir morgen einfach mal wieder in Ruhe schreiben ? Schreiben, einfach so. Ohne viel Trara und Tamtam ? – Ich war erstaunt. Aber ich verstand recht schnell, dass es damals großartig war, einen Film zu schauen. Und dass es heute großartig sein muss, einfach nur zu schreiben. Das war krass. Absolut krass. Aber mir war klar, dass genau die Dinge krass sind, die man nur selten hat und mit denen man eben gerade – sorry - nicht rechnet.
Am nächsten Tag schrieben wir. Alle. Und alle waren glücklich und zufrieden. Auch der Lehrer. Anton, Paule und Harry lasen am Ende der Stunde vor, was sie geschrieben hatten. Und plötzlich: Dieser Moment war – nein, ich hatte wirklich nicht damit gerechnet – magisch. Absolut magisch. Zumindest für mich. Alle drei Texte handelten vom Kaiser von China und ich war erstaunt, wie viel alle drei trotz allem von diesem kleinen Staatsbesuch mitgenommen hatten.
aus:
Das Medium im Unterricht – damals und heute.
RUE – Mai 2018
KINDHEITSRÄUBER
April 2018
Krieg hatten wir damals. Die Stadt lag in Schutt und Asche. Das Essen war knapp und auch sonst gab es nicht viel. Spielplätze ? Die Trümmerfelder in der Nordstadt waren unsere Spielplätze. Wir sortierten ihn. Jeden Stein sortierten wir. Stunden müssen es gewesen sein. Tante Martha sagte immer „Los Jungs, raus gehts, aufräumen!“. Ich weiß nicht, ob wir verstanden, was wir da taten. Ich weiß auch nicht, ob zu etwas gut war. Aber wir wussten damals, dass es ohne uns nicht ging. Nein, wir konnten nichts dafür. Er wollte es eben wissen. Bis zum Schluss, wollte er es wissen. Das hatten wir nun davon. Eine Schaukel ? Nein, davon wagten wir nicht zu träumen. Eine Rutsche ? Die bauten wir uns selbst. Material dafür hatten wir schließlich genug. Und wieder: „Jungs, vergesst euch nicht, aufräumen!“. Ich weiß nicht, wie viele Stunden, gar Tage, nein Wochen oder Monate es tagtäglich das gleiche Spiel war. Ja, irgendwie war es doch ein Spiel. Auch wenn es manchmal mühsam war. Wir fanden Spaß daran. Wir übten uns. An der frischen Luft. Im Staub. Im Dreck. Wir übten uns, durchzuhalten. Ja, auch wir wollten es wissen. Jeder, jeder wollte der Stärkere sein. Wir übten uns aber auch im Miteinander. Im Füreinander. Wir wussten damals nicht, was ein Team ist. Aber ohne darüber nachzudenken: Wir waren ein Team. „Jungs, packt an, das schafft ihr schon!“. – Wie recht sie hatte, Tante Martha. Sie wusste nicht viel von der weiten Welt. Sie konnte kaum lesen oder schreiben. Viele konnten kaum lesen oder schreiben in dieser Zeit. Aber ihr Herz. Das trug sie am rechten Fleck. „Dieser Lump, das hätte alles nicht sein müssen!“ Ich verstand nie, warum noch immer so viele sagten, dass sie gar nicht so schlecht gewesen sei, die Zeit, als noch Ordnung herrschte im Land. Tante Martha dachte anders. Sie war keine von denen, die ihm Jahre nach dem Krieg noch immer hinterher trauerten. Sie und wir, wir hatten längst unsere eigene Ordnung. Keine Hierarchie, nein. Hierarchien brauchte es nicht. Längst nicht. Wir erkannten, was dieses Land wirklich brauchte. Wir wussten was zu tun war. Wir wussten es für uns, wir wussten es für die anderen. Und so räumten wir auf.
Die Leute sagen, man hätte uns unserer Kindheit beraubt. Das mag vielleicht so sein. Am Ende, am Ende hatten wir mehr gewonnen als verloren. Uns wir hatten sie zurück. Jahre später. Unsere Stadt, unser Viertel, unsere Straße. Ja, es war unsere Stadt, unser Viertel, unsere Straße. Denn wir waren es, die sie aufgeräumt hatten. Aufgeräumt. Diese glanzlosen, aber einfachen Spielplätze in der Nordstadt.
Krieg habt ihr heute. Die Stadt liegt in Schutt und Asche. Peng. Wieder auf den Knopf gedrückt. Inszeniert. Und noch mehr. Fasziniert. Fasziniert von dem, was über euren Bildschirm flimmert. „Rechts außen“, sagt Paul immer. „Rechts außen ist der Knopf, mit dem du aufräumst!“. Den musst du einfach drücken. Wie man eine Schaukel baut, eine Rutschbahn ? Moment mal, warte noch. Wenn du die Trümmer hier weg hast, dann gibt es Bonuspunkte. Zwei, dann kannst du gleich zwei davon bauen. Zwei Rutschen, zwei Schaukeln. Dann, dann passiert alles von alleine. Zack. Schon ist Ordnung. Und zack. Schon ruft die nächste Mission. Rasen mähen. Im Garten. Langweiliger Job. Moment mal. War das jetzt die Stimme eures Vaters, die ihr grad gehört habt, oder ... Nein, quatsch, das muss hier im Spiel gewesen sein. Ja richtig. Drittes Feld, der grüne Daumen, ja, der ist es. Klasse, das ist jetzt aber mal sauber. Was jetzt ? Neue Missionen ? Gibt es nicht. Zeit für ein neues Spiel. Der Teamgeisttrainer. Kostenlos. Kostenlos im Downloadstore. Ohne Werbung. Testen. Dreißig Tage gratis. Ich weiß nicht, ob ihr versteht, was ihr da tut. Aber ihr beherrscht es scheinbar perfekt. Gemeinsam den besten Platz finden, an dem der Müll aus dem ersten Spiel entsorgt werden kann. Nicht schlecht. Anzahl der möglichen Plätze: Einer. Damit es keinen Streit gibt. Das ist Teamgeist. Wirklich nicht schlecht. Nein, ihr könnt nichts dafür. Ihr könnt nichts dafür, dass man euch mit eben diesem Müll überhäuft. Dass ihr ihn nicht in den Griff bekommen könnt - auch wenn es scheint, als hättet ihr hier längst alles im Griff. Alles. Inszeniert. Das fasziniert eben. Nicht so wie der Garten. Rasen mähen ? Das brummt doch nur, das knallt nicht. Und Bonuspunkte ? Nein, das Dankeschön eurer Väter ist eben nicht so viel wie ein zusätzliches Leben. Aber ja, ihr wisst schon, was zu tun ist. Und wir ? Wir haben sowieso keine Ahnung von dem was, was ihr da Wichtiges tut. Aber je mehr ich darüber nachdenke: Irgendwie hat man euch eurer Kindheit beraubt.
„Wo das noch einmal hinführt ... “, fragte Tante Martha immer. Irgendwie hatte sie es gewusst. Immer hatte sie es gewusst. Und wenn sie noch so schwarz sah – Tante Martha hatte recht. Immer. Das. Wir wussten nie wirklich, was es war, dieses „das“. Aber irgendwie war es fast ein wenig biblisch ... So wie ein Gleichnis. Es passte auf alles. Immer. Und wenn unser Vater seine Miene verzog, dann wussten wir: Jetzt ist Schluss mit lustig. Jetzt hören wir besser auf. Sonst würde es uns schneller einholen, als wir laufen konnten, dieses „das“.
Dass wir gemein wären, sagt ihr. Weg mit dem Ding. Einkassiert. Endlich Ruhe. Und das Geschreie ist groß. Wie wir bloß können. Und überhaupt. Zu streng sind wir ... Keine Ahnungvon dem, was die Jugend heute so braucht. Drei Wochen kommt es jetzt weg. Gemein ? Nein, konsequent. Und das Geschreie ist groß. Noch größer als Momente zuvor.
Ihr habt den Vergleich nicht. Darum geht es. Nur darum. Ihr könnt es nicht wissen. Wahrlich nicht wissen. Das, was wir tun. Wir müssen es tun. Nein, wir nehmen euch nicht eure Möglichkeiten. Wir nehmen sie euch nicht, eure Zeit. Wir geben sie euch. Zurück. Wir müssen es tun. Nein, wir nehmen sie euch nicht, eure Verantwortung. Eure Verantwortung, für das was ihr tut. Wir passen auf euch auf. Gut auf euch auf. Und wir geben sie an euch zurück. Für jetzt. Und für später.
aus:
Zwischen Generationen - was ich euch noch sagen wollte ...
RUE – April 2018
JUDAS, PILATUS UND DIE ANDEREN
April 2018
An diesem dritten Tag
habe ich Gott getroffen.
Und er fragte mich, wie es mir geht.
Nun, es ist nicht ganz einfach.
War es damals nicht.
Und ist es heute auch nicht.
Das letzte Abendmahl.
Das Brot brechen.
Als Zeichen der Verbundenheit.
Als Zeichen der Liebe.
Das.
Das verstehen wir alle.
Kreuzigung.
Wie oft schon habe ich diese Stelle gelesen.
Am dritten Tage auferstanden.
Klar, so war es.
Ja.
Wie auch sonst ?
Doch je öfter ich an diese Stelle komme,
desto mehr frage ich.
Hinterfrage ich.
Und ich entdecke Neues. Judas.
Was wäre gewesen,
wenn er ihn nicht verraten hätte.
Wenn ihn Jesu Worte zur Umkehr bewegt hätten ?
Ihn wachgerüttelt hätten ?
Ihn hätten schweigen lassen ?
So, wie er es eigentlich wollte.
Pilatus.
Was wäre gewesen,
wenn er nicht so feige gewesen wäre ?
Wenn er sich nicht vor dieser Entscheidung gedrückt hätte ?
Wenn er sie nicht vor die Wahl gestellt hätte ?
Ihn selbst freigesprochen hätte ?
Ihn einfach hätte gehen lassen ?
So, wie er es eigentlich wollte. Die Anderen.
Was wäre gewesen,
wenn sie nicht käuflich gewesen wären ?
Wenn sie nicht laut gebrüllt hätten.
Gebrüllt, was man ihnen gesagt hatte.
Ihren Mund gehalten hätten – oder ...
einfach nur gesagt hätten,
wen sie wirklich haben wollten ?
An diesem dritten Tag habe ich Gott getroffen.
Und er fragte mich, wie es mir geht.
Nun, es ist nicht ganz einfach.
War es damals nicht.
Und ist es heute auch nicht.
Die Osterbotschaft wäre sicher eine andere gewesen.
Mittlerweile ist mir klar:
Nein, es geht hier nicht nur um Nächstenliebe.
Es geht um Verantwortung.
Es geht darum, das zu tun, was richtig ist.
Was wichtig ist.
Was dein Herz dir sagt.
Aber auch dein Verstand. Folge ihm.
Deinem Herz.
Mensch, nutze ihn.
Deinen Verstand. Aufgeklärter Glaube ?
Geglaubte Aufklärung ?
Klarheit oder Glaube ?
Glaube und Klarheit ...
Nein, meine Seele - ist nicht geliehen.
Kein Traum – macht mich schwach.
Ich bleibe so - wie ich einst war.
Ich geb mich für niemand.
Für niemand und nichts.
Ich geb mich für niemand.
Für niemand und nichts.
An diesem dritten Tag habe ich Gott getroffen.
Er lachte.
Die Antwort auf deine Fragen, mein Sohn ?
Ich kenne sie nicht.
Geh, und suche sie in deinem Glauben.
Suche, und du wirst sie finden.
aus:
Für niemand und nichts – Ostern neu gedacht
RUE – April 2018
VERFALLSDATUM
Februar 2018
Papa – kann ich den Joghurt noch essen ?
Der ist zwei Wochen über dem Verfallsdatum!
Ach, bestimmt, das mit dem Verfallsdatum.
Das darf man nicht so genau nehmen.
Schau mal: Ich bin längst über dem Verfallsdatum.
Ich bin längst verfallen, nein ich falle.
Zerfalle.
Vor mich hin.
Die Ersatzteile aus dem Mund.
Und dann das Kreuz mit dem Kreuz.
Das hatten auch schon andere.
Aber klar, ich bin kein Heiliger.
Nicht mal ein Scheinheiliger.
Aber manchmal scheint mir so als ob.
Nein, ich scheine.
Ich bin sie, die Erleuchtung.
Da funkelt es in meinem Mund.
An allen Ecken und Enden.
Es glitzert.
Schmimmert silbern, als wären es Eiskristalle.
Ja. Eiskalt.
Eiskalt hat es mich wieder erwischt.
Schon wieder.
Und längst.
Halbwertszeit.
Halb-wärts-zeit.
Halb wert – Zeit ?
Ab-wärts-zeit.
Schon spannend.
Als ich mich gekauft habe.
Es stand kein Verfallsdatum drauf.
Aha. Der hält ewig.
Hab ich mir gedacht.
Den nimmst du.
Und plopp.
Welch ein Flopp ...
Vorsichtig anfassen.
Nur nicht kaputt machen.
Achtung, zerbrechlich.
Die Bilanz der letzten zwei Wochen ist dramatisch.
Dicke Mandeln. Dicke Backen.
Nein, bäcker geht es kaum.
Moment mal.
Wie war das gerade ?
Verfallsdatum ?
Habe ich nicht gerade eben gesagt,
dass man das mit dem Verfallsdatum nicht so ernst nehmen darf ?
Erst probieren, dann wegwerfen.
Zu schade, der ist doch noch gut.
Den wirft man doch nicht einfach weg.
Rein damit, Augen zu und durch.
Und die noch verbliebenen Zähne ....
Einfach mal zusammenbeißen.
Drauf. Na also, geht doch.
Und schmecken, mit Verfall, nein Verlaub, tut es,
nein er, nicht mal so schlecht ...
aus: Antilürik
RUE – Februar 2018
GEBEN und NEHMEN
Januar 2018
Das ist vielleicht eine Sache mit dem Geben und Nehmen. Da haben sie doch an Weihnachten alle wieder ge-geben – und manchmal sogar mehr noch mit-ge-nommen als her-ge-geben.
Ein fettes Fest. Ja, Feste muss man auch feiern, feste, und zwar so, wie sie fallen. Also mal an-ge-nommen das Fest wäre nicht ge-fallen. Nicht so. Nicht auf einen Sonntag. Hätte uns das dann auch ge-fallen ? Wahrscheinlich egal, aber es war schon seltsam ohne Ende, dass am Anfang alle Welt darüber nach-ge-dacht hat, ob sich da nicht ein paar Leute über-nehmen, wenn die Läden einfach offen bleiben. Und dann pulvern wir an Silvester wieder tonnenweise Feinstaub in die Luft. Unglaublich. Gibt es nur in Deutschland, solche Diskussionen, das liest man immer wieder. Vorweg-ge-nommen hatten es schon so manche Kritiker. Aber ge-geben hat es ihn dann wohl doch, den verkaufsoffenen Sonntag. Den ersten und den zweiten. Letztes Türchen. Und letzter Tag. Seis drum. Ihr Kinderlein kommet. Ja, die hat es dann wohl doch gefreut, dass es auch an diesen beiden Tagen frische Brötchen ge-geben hat. Alle. Ihr Kinderlein kommet. Oh kommet doch all.
Manch einer nimmt sich Zeit, andere nehmen sich in den Arm und beim Festschmaus nimmt sich dann jeder bitte doch nur das, was es für alle ausreichend gibt und was auch wirklich gegessen wird. Da waren die Augen dann doch wieder größer als der Hunger. Oder der Hunger größer als der Bauch. Ja, das gibt es wirklich. Nicht jeder hat eben die Gabe, sich nur das zu nehmen, was er essen kann und zeitgleich auch den anderen noch das zu geben, was sie brauchen. Trocken Brot. Mit Rehgulasch. Nicht schlecht. Das gibt es dann manchmal drei Tage am Stück. Oder vier. Wozu das führt ? Klar, so ganz ohne Bewegung von achtzig auf fünfundachtzig. Kilo. In einem Zug. In einer Woche. Sauber. Und an dieser Stelle landen wir dann in der dritten Dimension: Ab-nehmen. Ist jetzt angesagt. Geben. Fünf Kilo für den, der sie selbst nicht auch zu viel hat. Her-geben. Nicht weg-nehmen. Einfach nur. Aufhören. Ein böser Blick auf das Essen. Und zack. Ver-geben-s. Von alleine. Schafft man das nicht. Mann schon gar nicht.
Aber wenn wir alle, wenn wir alle alles geben, dann können wir das, was wir da zu-ge-nommen haben, auch wieder her-geben. Vierhundert Millionen Kilo mehr – oder weniger – und das allein in Deutschland. Das nimmt uns die Balance. Mir aber gibt es Zuversicht. Ich mit euch. Und wir alle. Wir alle. Wir schaffen das - wieder. Auch in diesem Jahr. Genommen habe ich. Zu-genommen. Jetzt wird geteilt. Jetzt wird nochmal ge-geben. Ihr dürft euch gerne nehmen, was ihr braucht. Und wer sich zuerst nimmt, für den gibt es das beste der fünf Kilos ... Ach so: Ohne Gewährleistung, und vom Umtausch ausgeschlossen. Klar, Mann. Geschenke. So wie bei den Königen. Damals. Geschenke. Die nimmt man gerne. Denn wer schenkt, gibt von Herzen. Oder in diesem Fall ... auch einfach nur ... aus dem Bauch ...
aus: „Fünf Kilo später – glücklicherweise fällt der 6. Januar 2018 auf einen Samstag“ in: Kamufs Kolumne – Januar 2018
AUSSTIEGSKLAUSEL
Dezember 2017
Wie gut, dass der Weihnachtsmann keine Ausstiegsklausel hat. Das hätte uns gerade noch gefehlt. Einfach weg. Verträge machen und sie dann nicht einhalten. Wo kämen wir denn da an Weihnachten hin ...
Fußball ist schon ein seltsames Geschäft. Dabei ein so wichtiges. Wir brauchen sie, unsere Vorbilder. Kinder brauchen sie, ihre Helden. Identifikationsfiguren. Kämpfer. Charaktertypen. Solche, die nicht dem Ruf des großes Geldes folgen und dann einfach mal weg sind.
Ein Vertrag – was ist ein Vertrag ? Ein Versprechen ? Mehr noch ? Ich hatte immer gedacht, dass der, der einen Vertrag schließt, es auch ernst meint. Und dass der, der etwas verspricht, es auch hält. So wurde ich erzogen. Und dafür bin ich dankbar.
Allmählich scheint es immer häufiger der Fall, dass man sagt, man macht etwas, ohne es zu wollen. Ohne es wirklich zu wollen. Komm mich besuchen – aber bleib mir bloß weg. Ich bleibe auf Jahre – aber nutze die erste Chance, zu gehen. Lebenslänglich - eine Strafe ? – Nein, ein Geschenk. Wo sind sie die geblieben, die Männer, die meinem Sohn Vorbild sein können ?
Oder ... wirst du ausgestiegen, obwohl du das gar nicht willst ? Wirst du weggeschrieben, obwohl du noch immer da bist und eigentlich gar nicht wirklich willst ? Die Macht der Medien ist eine unfassbar große. Du liest Zeitung und erfährst Dinge über dich, die du noch gar nicht wusstest. Der Weihnachtsmann ? Arbeitet jetzt bei Bayern München, nur weil er einen roten Mantel trägt ? Unfassbar ! Das hätte er nie gewollt – und Bayern München auch nicht. Nein. Der Weihnachtsmann ist zu Höherem berufen. Er kann nicht weg. Quatsch, er will es auch gar nicht. Seit Jahren macht er seinen Job. Basisarbeit. Und er macht ihn gut. Wahrscheinlich hat er auch noch gar nie darüber nachgedacht, auszusteigen. Warum auch ? Weil er ihn liebt, seinen Job. Weil er ihn von Herzen macht. Weil er dafür brennt. Und weil ihn umgekehrt die Menschen lieben. So, wie er ihn macht, seinen Job. Heute hier, morgen dort ... ? Da gibt es keinen Rauswurf, da wird nicht ausgewechselt. Da weiß man, was man hat. Da weiß man, was man an ihm hat. Damals, als alles besser war, hätte er vielleicht wirklich gerne für Bayern München die Pakete verteilt. Aber damals hätte er auch sofort gewusst, dass diese Nummer nicht sein Ding ist. Pakete verteilen. Nein. Fußballtrainer ist er, Fußballtrainer will er bleiben. Und das kann er nur dort sein, wo man ihn Trainer sein lässt – Karriere hin oder her.
Ich habe keine Ausstiegsklausel. Ich wechsle nicht alle paar Jahre den Job. Ich stelle mich den Anforderungen des Augenblicks, kämpfe und wachse. Es ist nicht immer das Neue, das voranbringt. Es ist vielmehr eine noch größere Herausforderung, das Alte durchzuhalten, das Versprochene zu erfüllen. Im Trend, das weiß ich, liegt dies nicht.
Manchmal trifft man mit dem, was man schreibt, den Nagel auf den Kopf. Autsch. Manchmal glaubt man an ihn, an den Weihnachtsmann. Manchmal ist es sogar dasselbe. Eine Ausstiegsklausel, ihr Leute, gibt es nur dort, wo es offene Türen gibt. Bald werden es 24 sein. Aber ich weiß genau, dass der Typ im letzten Türchen einfach sitzen bleiben, mich angrinsen und mir eine „frohe Weihnacht“ wünschen wird !
RUE - Dezember 2017
ZIPFELMÄNNCHEN
November 2017
Und als dem Weihnachtsmann dann an jenem Abend die Weihnachtsmänner ausgegangen waren und unendlich viele kleine Christen, Moslems und Juden zuhause saßen und bittersüße Tränen vergossen, fasste sich der Weihnachtsmann ein Herz. Die Rentiere eingespannt, auf den Schlitten – und los ging es zum Supermarkt seines Vertrauens. Coca Cola hatte die Rezeptur geändert. Nein, diese braune Brühe schmeckte ihm schon lange nicht mehr. Nutella war nun weniger provokant und kommt etwas heller daher und selbst die einst so leckeren Mohrenköpfe lagen seit Jahren als Schokoküsse verkleidet in den Regalen
Wie dem auch sei. Er zog seine rote Zipfelmütze, kratzte sich an seinen silberfarbenen Haaren und suchte im Süßwarenregal nach Weihnachtsmännern. Vergebens. Egal, welchen Supermarkt er betrat – nichts, nichts und wieder nichts. Kein einziger Weihnachtsmann. In keinem einzigen Regal. Als er den letzten Supermarkt auf dem Weg nach Hause kreuzte, fasste er sich ein Herz und sprach die Verkäuferin an der Kasse an. „Weihnachtsmänner?“ – „Die gibt es schon lange nicht mehr. Dort im Regal stehen Zipfelmännchen, die schmecken gleich, sehen gleich aus und die Kinder werden sich genau so darüber freuen.“ – „Das glaube ich nicht“, entgegnete der Weihnachtsmann. „Die sehen zwar so aus, aber sie sind nicht echt !“ – „Was ist schon echt?“ fragte die Verkäuferin, die schon gar nicht glauben wollte, dass der Weihnachtsmann vor ihr kein Zipfelmännchen, sondern tatsächlich der echte und wahre Weihnachtsmann war. „Nichts ist echt“, fuhr sie fort, „nichts ist echt. Der Weihnachtsmann ist eine Erfindung von Coca Cola und diese Schokoladenfiguren sind reinste Geldmacherei!“ – „Kann schon sein“, erwiderte der Weihnachtsmann „aber wenn ich sie den Menschen bringe, wird ihnen warm ums Herz, Kinderaugen leuchten und die Eltern der auch noch so frechen und faulen Bengel haben nach dem Entzug der Playstation und nach der Handysperre noch ein letztes Druckmittel, mit dem sie ihre Kinder dazu bringen, wenigstens einmal im Jahr Hausaufgaben zu machen.“ – „Und ?“ – „Und deshalb werde ich nun, ob ich will oder nicht, einen Sack dieser Zipfelmännchen kaufen und mein Glück in vorweihnachtlich geschmückten Häusern versuchen.“
Gesagt, getan. Zunächst rutschte er durch den Schornstein in das Haus, in dem fromme Christen lebten. Wie jedes Jahr wurde gesungen, gedichtet, gebetet, geschimpft und gelobt und die Kinder in diesem Haus warteten gespannt auf das, was sie am meisten mochten: Die Weihnachtsmänner aus Schokolade. Doch groß war ihre Enttäuschung, als der Weihnachtsmann nur ein Zipfelmännchen aus dem Sack zog. Tränen flossen und alle riefen: „Weihnachtsmann, Weihnachtsmann, wir wollen keine Zipfelmännchen, wir wollen Weihnachtsmänner, richtige, schokoladige Weihnachtsmänner.“ – „Wisst ihr Kinder, ich muss euch da etwas erklären: Blabla, blabla ...“ – dem Weihnachtsmann fehlten die Worte und letztendlich verließ er das Haus, ohne dass die Kinder verstehen konnten oder wollten, warum aus den Weihnachtsmännern nun Zipfelmännchen geworden sind.
Danach rutschte er durch den Schornstein in das Haus, in dem gläubige Moslems lebten. Wie jedes Jahr wurde gesungen, gedichtet, gebetet, geschimpft und gelobt und die Kinder in diesem Haus warteten gespannt auf das, was sie am meisten mochten: Die Weihnachtsmänner aus Schokolade. Doch groß war ihre Enttäuschung, als der Weihnachtsmann nur ein Zipfelmännchen aus dem Sack zog. Tränen flossen und alle riefen: „Weihnachtsmann, Weihnachtsmann, wir wollen keine Zipfelmännchen, wir wollen Weihnachtsmänner, richtige, schokoladige Weihnachtsmänner.“ – „Wisst ihr Kinder, ich muss euch da etwas erklären: Blabla, blabla ...“ – dem Weihnachtsmann fehlten die Worte und letztendlich verließ er auch dieses Haus, ohne dass die Kinder verstehen konnten oder wollten, warum aus den Weihnachtsmännern nun Zipfelmännchen geworden sind.
Klar. Wir wissen nun, wie es weiter ging, denn gleiches widerfuhr ihm im Haus der jüdischen Kinder.
Das letzte Haus, das alljährlich auf seinem Weg lag, war das Haus, in dem Anna und Pablo lebten. Anna und Pablo waren keine Christen, auch keine Moslems, keine Juden. Eigentlich, so hatte der Weihnachtsmann einst gelesen, haben ungläubige Kinder keine Weihnachtsmänner verdient. Doch der Weihnachtsmann machte da keine großen Unterschiede. Kinder sind schließlich Kinder. Und so brachte er jedes Jahr kurz nach Mitternacht auch diesen zwei Kindern einen Scholoadenweihnachtsmann vorbei.
Er rutschte durch den Schonstein in ihr Haus, packte die letzten zwei Zipfelmännchen aus und sprach verlegen: „Hier Kinder, hier - sind eure Zipfelmännchen !“ – „Zipfelmännchen ? Das ist doch albern. Das sind doch keine Zipfelmännchen. Das sind Weihnachtsmänner wie jedes Jahr!“ – Der Weihnachtsmann hielt erstaunt inne. Waren seine Augen so schlecht geworden ? Er hatte doch auch für Anna und Pablo Zipfelmännchen und keine Weihnachtsmänner gekauft. – „Seid ihr euch sicher ?“ – „Ganz bestimmt, das sind Weihnachtsmänner – und zwar so wie jedes Jahr.“ – Anna und Pablo waren glücklich, dass der Weihnachtsmann auch dieses Jahr sie nicht vergessen hatte. Und der Weihnachtsmann seinerseits war überglücklich, dass er wenigstens zwei Kindern eine Freude bereitet hatte.
Manchmal ist es keine Frage, an was man glaubt, sondern dass man glaubt, dachte sich der Weihnachtsmann. Und manchmal ist es auch eine Frage, ob man das glaubt, was man selbst sieht, oder ob man das glaubt, was einem die Leute erzählen, sinnierte er weiter.
Das war in 2017. Glücklicherweise leben wir in 2050. Egal wann und egal wie sie jemals hießen. Auch für mich, sagte sich der Weihnachtsmann, für mich waren, sind und bleiben es immer: Weihnachtsmänner.
RUE – November 2017
Die Gummibärchentüten
September 2017
Seltsam ist es schon. Früher. Da gab es rote, gelbe, orangene, grüne und weiße Gummibärchen. Die lebten zumeist zufrieden und glücklich in Tüten. Nebeneinander. Miteinander. Und nie wäre einer von ihnen auf die Idee gekommen, neidisch zu sein, dass ein anderer beliebter ist als ein anderer und früher gefuttert wird. Damit sind wir alle groß geworden. So war es. Und so hat es funktioniert. Jahrein. Jahraus.
Eines Tages kam man auf die Idee, blaue Gummibärchen herzustellen. Und: Man packte sie gemeinsam mit all den anderen in die gleichen Tüten. Die Reaktion war verblüffend: „Schon gehört ? Es gibt blaue Gummibärchen ! Die musst du mal probieren. Die schmecken anders ... Viel besser !“ – Und plötzlich schien es, als wären die anderen Gummibärchen nichts mehr wert. Ja, Neues macht neugierig. Das ist gut so. Wir haben sie probiert, die blauen Gummibärchen. Wir haben aber auch gemerkt, dass es am Ende „nur“ Gummibärchen waren. Und weil kaum einer von den anderen Gummibärchen mit ihnen spielen wollte, verschwanden sie still und leise wieder aus den Beuteln.
Zugegeben: Am Anfang hatten alle anderen Angst, dass es irgendwann nur noch blaue Gummibärchen geben könnte. Aber diese anderen haben sich behauptet, durchgesetzt – Geschmack siegt ! Die Blauen waren wieder weg. Nein. Nicht gejagt. Auch nicht verjagt. Das war nicht nötig. Manchmal setzt sich Qualität, manchmal Altbewährtes eben durch. Dem ein oder anderen Käufer fehlen sie vielleicht sogar, die Blauen. Aber wenn es keine gibt, dann wählt er eben unter den anderen – und wird auch satt.
Zwei gute Wochen
September 2017
Ein Mann schenkte mir einst zwei Wochen. Die erste Woche schien, als dauerte sie ewig. Strahlende Sonne, blauer Himmel, die Füße im Wasser und immer wieder dort, auf dieser Bank. Ja, ein Mangoeis am Alpsee, das war etwas Unbezahlbares. Und Zeit, Zeit war keine Frage, Zeit war einfach da. Zeit genug. Zeit, den Gedanken der letzten Jahre nachzuhängen und einen neuen Status Quo zu bestimmen. Immer wieder mal. Nicht notwendigerweise, aber durchaus berechtigt. Sollte ich den Weg nach Missen nun über die Pfarralpe wandern – oder umgekehrt – oder besser doch überhaupt nicht ? Keine essenzielle Sache, aber eine durchaus berechtigte Frage. War da nicht für Mittwoch ein Gewitter angesagt ? Nein, ein Gewitter ? Ein Gewitter kann mich nicht. Niemals. Und selbst wenn – Gewitter, so meine Mutter früher, reinigen die Luft. Mittwoch ? Aber nein, es war doch erst Sonntag. Ewig, jede Sekunde, ewig jeder Moment. Groß sind sie geworden, die zwei. So groß, dass jeder von ihnen mittlerweile sogar zwei Kugeln Mangoeis auf einmal schafft. Mehrmals natürlich. Jeden Tag natürlich. Hoppla, damit hatte ich nicht gerechnet. Das geht ganz schön ins Geld. Aber was solls, alles war perfekt, eine perfekte Woche. Ich hatte sie, die Zeit. Ich hatte sie fest im Griff. Und alles, alles um sie fühlte sich unendlich leicht an. Ja, ich hatte sie, die Zeit.
Die zweite Woche schien, als dauerte sie ewig. Jähe Schmerzen plagten mich. Gut, so eine Schönheitsoperation tut vielleicht nicht wirklich Not, aber wer schön sein will, so meine Mutter früher, muss leiden. Und wenn der Schönheitsschlaf erstmal nicht mehr hilft, dann muss es her, das Messer. Ja, keine Falten mit achtundvierzig, damals, unterm Erdbeermond, das war nicht schlecht. Aber zukunftsfähig war das nicht. Ich welzte mich, von links nach rechts, zurück, im Kreis und wünschte mir nichts sehnlicher, als ein Kühlpack, das auch tatsächlich kühl bleibt. So ein Mangoeis, das hätte sicher geholfen. Aber ein Zehnereis ? Okay: Zwei, nein drei, nein vier ... Regenbogenfarbene Wangen, nein, damit gewinnst du keinen Schönheitswettbewerb. Lachhaft. ob ich eine Schlägerei gehabt hätte, fragen die mich doch tatsächlich. Wer schafft es schon, so zuzuschlagen, dass die Brille dabei heil bleibt ? Und dann das große Grinsen auf den Plakaten. An jeder Ecke. Auf dem Weg zum Arzt, und darüber, und darunter, und daneben und zurück. Grässlich. Damit gewinnst du doch keine Wahl. So lag ich da, tagein, tagaus, und tat mir selber leid. Unendlich leid. So unendlich leid. Aber so etwas von unendlich, wirklich unendlich leid. Sieben Tage Schlaf ohne zu schlafen, das muss mir erstmal einer nachmachen. Aber ewig jammern – nein - das - das nützte mir auch nicht viel. Das war mir klar. Irgendwann zumindest, war es mir klar. Sie hatte mich, die Zeit. Sie hatte mich fest im Griff. Und alles, alles um sie fühlte sich unendlich schwer an. Ja, sie hatte mich, die Zeit.
Als ich Tage später den Mann, der mir diese zwei Wochen geschenkt hatte, auf der anderen Straßenseite sah, fragte ich mich, was er sich wohl dabei gedacht hatte. Wie konnte er mich nach einer so unendlich guten mit so einer unendlich schlechten Woche bestrafen ?
Als er etwas später mit dem Krankenwagen abgefahren wurde, verstand ich, was er mir sagen wollte: Freud und Leid gehören zum Leben. Die wirklich gute Woche war nicht die erste. Die wirklich gute Woche war die zweite. Denn am Ende der Woche waren alle Schmerzen vergangen, es ging mir nicht nur gut, sondern ich sah blendend aus. Gesundheit, das war mir plötzlich wieder klar, ist das höchste Gut auf Erden !
PROBLEME ...
August 2008
Das Gutscheinproblem
Da war es also wieder. Dieses Heftchen mit diesen unendlich vielen Gutscheinen. Was es bringt ? 10% Rabatt bei einem Einkauf ab 50 Euro. Aha. Will uns also sagen, dass man bei einem Einkauf im Wert von 50 Euro satte 5 Euro spart und nur 45 Euro bezahlen muss. Aber ... Moment mal: Wenn man nichts kauft, spart man sogar 45 Euro, denn man gibt ja kein Geld aus ... Oh nein, noch besser: Wenn man den Gutschein einfach entsorgt und so tut, als hätte es ihn nie gegeben, dann spart man sogar 50 Euro. Was wir daraus lernen ? Ohne Gutschein spart man mehr als mit Gutschein - oder in anderen Worten: Verzichte ich jede Woche auf einen solchen Gutschein und kaufe ich mir nichts, macht das im Jahr 2500 Euro - oder in vier Jahren ein schicker Gebrauchtwagen. Umsonst ! Ein Hoch auf alle weggeworfenen Gutscheine !
Das Mehrwertsteuerproblem
Hieraus resultiert ein ganz anderes Problem: Kauft man sich kein T-Shirt für 10 Euro, so zahlt man auch keine 19% Mehrwertsteuer, also keine 1,90 Euro an den Staat. Wenn ich also letzte Woche das T-Shirt nicht gekauft habe, warum habe ich dann bis jetzt immer noch keine Mehrwertsteuer vom Staat erstattet bekommen ?
Das Inflationsproblem
Da klingelt es wieder. 17.30 Uhr - aha, der Eismann steht vor der Tür und möchte uns wie jeden Tag eine Kugel Waldmeister, zweimal eine Kugel Nuss und eine Kugel Pistazie, natürlich im Becher mit lila Löffel, verkaufen. Eine Kugel - 70 Cent. Nicht schlecht, denke ich mir. Damals, vor 35 Jahren kostete eine Kugel 20 Pfennig. Und wenn man zwei kaufte sogar beide zusammen nur 30 Pfennig. Waldmeister und Nuss. Jeden Abend um 17.30 Uhr. Schon damals war mir fast immer schlecht, nachdem ich das Eis gegessen hatte. Milchallergie, versteht sich. Heute ist das noch immer so. Ärgerlich, dass Bauchschmerzen mittlerweile so teuer geworden sind.
Das Energieproblem
Endlich wieder ein Brief. Ich hatte schon gedacht, sie hätten es vergessen. Aber nein. Ab November steigt der Gaspreis einmal mehr um 10% ... Oder in anderen Worten um etwa 10 Euro monatlich. Na da ist es aber durchaus günstig, dass es ab November auch mehr Gehalt gibt. Etwa 30 Euro werden das sein. Prima, dann könnte ja das Gas noch einmal 20 Euro teurer werden. Wären da nicht der steigende Benzinpreis, höhere Stromkosten, gestiegene Milch- und Lebensmittelpreise, höhere Versicherungsbeiträge, kaputte Glühbirnen, defekte Computermäuse ... Ja, wären da nicht diese anderen kleinen Geldschlucker, hätte ich mir glatt überlegt, ob ich freiwillig mehr Abschlag für Erdgas bezahle und somit einer nächsten Preiserhöhung zuvor komme ?!